Sie ist Woyzeck
Woyzeck ist eine Frau. Erika Jell verkörpert die Soldatin, die alles tun muss, um ihre Frau Marie und ihr Kind zu ernähren. Jell ist „die Woyzeck“ mit ganz viel Hingabe, lässt uns intensiv teilhaben an der erst materiellen, dann in zunehmendem Maße auch psychischen Dekonstruktion eines menschlichen Lebens. Das ist Erika Jells zutiefst beeindruckendes Debüt am Wolfgang-Borchert-Theater.
Tanja Weidner schafft eine Fassung von Büchners Dramenfragment, die eine gute Stunde dauert. Diese Stunde ist straff und voller Spannung. Denn Weidner konzentriert sich auf auf die Beziehungen Woyzecks zum Doktor, zum Hauptmann und zu Marie. Dadurch bleiben Kargheit und szenischer Charakter erhalten und werden sogar noch gesteigert durch die vorgenommene Verknappung der Handlung.
Wackelig und auf schwankendem Untergrund aufgebaut, sind Woyzecks Anstrengungen, sein Leben menschenwürdig zu gestalten. Das zeigt Annette Wolfs Bühne, die aus hängenden, schwingenden Holzplanken besteht und aus Bierzelttischen, die wie überdimensioniert breite Wippen funktionieren. Das ist gut gedacht und die Wippen taugen auch als Bilder. Geschmälert wird ihr Einsatz durch das lautstarke Herunterkrachen. Dessen aufrüttelnde Wirkung verpufft recht schnell und nervt dann ziemlich. Vielleicht dann doch noch ein paar Gumminoppen zur Abmilderung des Geräuschs... Insgesamt schafft Wolf aber eine gelungene Szenerie, in der Tanja Weidner die Tragödie stetig und unerbittlich der Kulmination entgegen führen kann. Das tut sie geradezu unaufgeregt durch eine überdeutliche und fast klassisch zu bezeichnende Figurendeutung.
Blass bleibt der Tambourmajor, ein testosterongesteuerter Macho, quasi ein Deckhengst alter Schule, den Alessandro Scheuerer souverän verkörpert. Dass Weidner auch der Marie eher weniger Raum einräumt, erstaunt da schon mehr. Rosana Cleve gelingt es dennoch, sanfte Vielschichtigkeit zu etablieren und gegen das ihr verordnete Nutten-Outfit (diese Beschreibung wurde bewusst gewählt) anzuspielen.
Jürgen Lorenzen als Doktor definiert Woyzeck als pures Objekt seiner Versuche, spricht in zunehmenden Maße nur von „Es“, beraubt Sie aller Menschlichkeit - eine schöne aalglatte Darstellung, die Weidner mit Bravour in Szene setzt. Den Hauptmann gibt Florian Bender. Er braucht Woyzeck, um seine eigene gesellschaftliche Stellung zu festigen. Dazu muss er sie demütigen. Weidner zeichnet ihn als im wahrsten Sinne unmenschlichen Cyborg-Krieger.
Woyzeck muss zur Mörderin werden, muss Stimmen hören, die sie dahin treiben. Das zeigt Tanja Weidner in einer konzis-stringenten Fassung von Büchners Woyzeck. Die wird vom Publikum zu Recht gefeiert. Doch den Grund, warum Woyzeck weiblich ist, verrät sie uns letztlich nicht.