Der Tod spielt Schach mit der Verzweiflung
In Mrs. Dalloway wolle sie „die Weltsicht des Gesunden und des Geisteskranken Seite an Seite“ stellen, soll Virginia Woolf gesagt haben. Für gesund halten sich vermutlich auch Dr. Holmes, der dem von Kriegserlebnissen traumatisierten Septimus Warren Smith im Roman wiederholt bescheinigt, ihm „fehle nichts“, und Dr. Bradshaw, der ihn ohne vernünftige Diagnose in eine seiner Kliniken einweisen will. 74 Jahre später beschreibt Sarah Kane in ihrem Stück 4.48 Psychose die zerstörte Innenwelt einer psychisch Kranken zum Zeitpunkt eines ausgeprägten depressiven Schubes, und auch sie zitiert u. a. die vergeblichen und wenig empathischen Versuche der Psychiater, heilend einzugreifen. Bei beiden literarischen Werken handelt es sich um Bewusstseinsströme; eine Handlung ist Nebensache und dient allenfalls der Illustrierung der psychischen Nöte. Beide Texte sind aber hochintelligente, wiewohl sehr unterschiedlich gebaute Reflexionen über den Tod, die Depression und die Unfähigkeit von Medizin und Umwelt, den Erkrankten zu helfen.
Dass die Regisseurin Selen Kara auf den Gedanken gekommen ist, beide Werke am Schauspiel Dortmund in einem einzigen Theaterabend zusammenzufassen, ist angesichts dieser Parallelitäten mehr als einleuchtend. Beide Werke unterscheiden sich allerdings beträchtlich. Virginia Woolf ist eine sensible, in ihrem Werk eher introvertiert wirkende avantgardistische Poetin und Seelenerkunderin, die in ihrer Jugend noch die Enge der viktorianischen Gesellschaft erlebte. Der 1925 erschienene Roman Mrs. Dalloway spiegelt die britische Gesellschaft in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, die noch in alten Traditionen verhaftet ist und gleichzeitig zu damals unerhörten neuen gesellschaftlichen Lebensformen aufbricht. Sarah Kane dagegen ist eine der krassesten Vertreterinnen des britischen „In yer face“-Theaters der 1990er Jahre. Ihr Text, obwohl ebenfalls eine Innenschau und ein Bewusstseinsstrom, erscheint als extrovertierter Hilferuf. Mrs. Dalloway und der in ihrem Roman suizidal endende Kriegsheimkehrer Septimus leiden still, Kane schreit ihre Wut und Verzweiflung heraus. Beide Autorinnen aber haben (jeweils im Verein mit anderen Kollegen wie z. B. James Joyce im Falle Woolfs oder Mark Ravenhill im Falle Kanes) eine neue Note in die Literatur eingebracht, ja: sie sogar revolutioniert.
Kara hat Kane und Woolf sehr genau gelesen und findet in den sprachlich höchst unterschiedlich gestalteten Werken zahlreiche weitere Parallelitäten: die Motive von Eigenliebe und Selbsthass, von lesbischer bzw. bisexueller Liebe einschließlich einer bei Clarissa Dalloway ebenso wie bei Kanes Protagonistin problembehafteten Einstellung zur Sexualität, eine selbst verordnete und unüberwindlich gewordene Einsamkeit – und das fast wortgleiche Geständnis beider suizidaler Personen kurz vor dem Ende, leben zu wollen: „Ich will nicht sterben. Das Leben ist gut. Die Sonne heiß. Nur die Menschen?“, sind Septimus‘ letzte Worte in Dortmund, bevor er aus dem Fenster springt. Auch bei Kane heißt es: „Ich will nicht sterben“ – aber gerade wegen ihrer Angst vor der Sterblichkeit sieht Kanes Protagonistin im gleichen Moment die Zeit für den Suizid gekommen. Sie sieht sich im falschen Körper und im falschen Zeitalter geboren – auch das sind typische Themen von Virginia Woolf, wie sie vor allem in ihrem Roman Orlando angesprochen werden. Die Kostüme aus 4.48 Psychose wirken wie eine Referenz an das zuvor gespielte Stück aus den 1920er Jahren: Die oft chorisch sprechenden, keiner Stückfigur zuzuordnenden sieben Schauspielerinnen und Schauspieler ähneln in ihren langen Kleidern schwarzen und weißen Todesengeln, könnten in dieser Verkleidung aber auch als Gäste auf den berühmten täglichen Dinnerpartys der Clarissa Dalloway auftreten.
Karas Inszenierung sollte eigentlich in der vergangenen Spielzeit zu den Hochzeiten der Covid-Pandemie herauskommen, so dass die Regisseurin gezwungen war, die Innenschau mit größtmöglichem Abstand zwischen den Körpern zu inszenieren. Und so spielt sie Schach mit den Figuren. Oder ist es der Tod, der hier mit Verzweifelten Schach spielt? Linda Elsner, die im „Mrs. Dalloway Prinzip“ die Erzählerin gibt, hat in der Anfangsszene tatsächlich eine Art Schachbrett auf dem Schoß und platziert die Figuren. Die lebenden Schauspielerinnen und Schauspieler gehorchen: Auf einer abstrakten weißen Bühnenterrasse nehmen sie ihre Plätze ein, auf denen sie zunächst statuenhaft verharren. Für „4.48 Psychose“ hat die Bühnenbildnerin Lydia Merkel gar ein veritables quadratisches Schachbrett als Bühnenaufbau einer Drehbühne entworfen, auf dessen Feldern sich die Figuren bewegen. Eine weiße Skulptur aus lauter beschriebenen Zetteln ergänzt das Bühnenbild bei Mrs. Dalloway – ab und zu reißt eine der Figuren ein Blatt von diesem Zettelbaum ab, gibt vor, es zu lesen und wirft es zu Boden. Zitiert wird hier wohl die Angewohnheit des traumatisierten Septimus, seine Visionen und Wahnvorstellungen in kleinen Notizen, Diagrammen und Zeichnungen auf solchen Zetteln festzuhalten.
Beim Schach herrscht nicht die Stimmung wie auf der Südtribüne im Westfalenstadion: Das Inszenierungskonzept lässt die Aufführung zu Beginn sehr spröde wirken. Es sind die Männer, die trotz der formalen Spielweise ab und an auf zarte, sensible Weise unterdrückte Gefühle über die Rampe bringen: Bei Raphael Westermeiers Peter Walsh, Clarissas scheinbar verklemmter Jugendliebe, keimt nach fünfjährigem Indienaufenthalt wieder seine versteckte, unglückliche Zuneigung auf; Adi Hrustemovic als Clarissas Gatte Richard lässt für Sekunden nur, aber nichtsdestotrotz berührend bei der Nachricht von Peters Rückkehr seine Zweifel spüren, wem die wahre Liebe gehört, und Christopher Heisler als Septimus, fühlt sich sogar von den Ärzten verfolgt, die ihn heilen sollen. Bettina Engelhardts Clarissa dagegen, voller Selbstzweifel und wohl auch auf der Flucht vor der Realität, hat sich aus Angst vor ihrem gesellschaftlichen Aus in ein solch diszipliniertes persönliches Korsett gezwängt, dass das Korsett der Inszenierung ihr die Wirkung raubt. Wer mit Virginia Woolfs Roman nicht vertraut ist, dürfte ohnehin manches Mal Verständnisschwierigkeiten bei diesem Teil des Abends haben.
Doch während das hochartifizielle Konzept dem Text von Virginia Woolf des Öfteren die Kraft zu nehmen droht, setzt sich im zweiten Teil des Abends die Wut und Verzweiflung von Kanes Sprache durch. So unterkühlt der erste Teil auch war: Jetzt ist Feuer unterm Dach. Eine Drehbühne sorgt trotz des erwähnten Schachbrettmusters für erheblich mehr Dynamik. Es agieren die gleichen sieben Schauspieler wie zuvor, doch sind nun alle Figurenzuordnungen aufgehoben. Häufig chorisch spielen alle sieben das depressive Alter Ego der Autorin und den ihr professionell, aber aus Sicht der Kranken wenig empathisch gegenübertretenden Psychiater; sämtliche Bewegungen sind choreographiert. Diesmal entwickeln erstaunlicherweise vor allem die weiblichen Ensemble-Mitglieder die größte Kraft. Wort- und Satzfetzen sind es nur, die die Symptome der Depression wie Angst und Schuldgefühle und das Leiden am eigenen Körper, an der eigenen Sexualität beschreiben. Auch Medikamentenbezeichnungen und -dosierungen, Zahlen und Begriffe, Analysen aus Arztberichten werden gebrüllt oder geflüstert, voller Wut, voller Schmerz – und voller Poesie. Ja, man glaubt es nicht, aber dieser krasse In-yer-face-Text, in dem es auch vor Fäkal- und Kraftausdrücken wimmelt, entwickelt in manchen Phasen eine geradezu lyrische Kraft, eine dunkle, hoffnungslose Poesie des Todes. Kanes Sprache verbindet sich mit der großartigen Musik von Torsten Kindermann und den zur Hochform auflaufenden Schauspielern zu einem furiosen, erschütternden Wortkonzert der Angst.
„Fear no more“, hatte das Ensemble in „Mrs. Dalloway“ immer wieder geraunt. „Fear no more the heat oft he sun“, hatte Septimus Warren Smith gesagt, bevor er sich aus dem Fenster stürzte. Gibt es denn wirklich keinen anderen Ausweg als die Selbsttötung, um sich von dieser Angst zu befreien? - Sowohl Virginia Woolf als auch Sarah Kane litten zeitlebens unter schweren Depressionen. Woolf ertränkte sich 1941 im Alter von 59 Jahren im Fluss Ouse in East Sussex. Kane erhängte sich im Jahre 1999 im Alter von 28 Jahren in der Psychiatrischen Klinik, in der sie behandelt wurde.