Achtsamkeit und Hafermilch
Ob es denn noch Lehrstück oder schon Dokumentartheater sei, fragen die Schauspieler ab und zu, wenn sie aus ihrer Rolle steigen. Nun, zunächst einmal sind Die Rundköpfe und die Spitzköpfe Polittheater - sie sind ja schließlich von Brecht. Und zum anderen waren sie bislang ein Flop - Hand aufs Herz: Gibt es irgendjemanden unter Ihnen, der von dem Stück schon einmal gehört oder gelesen hat? Nach der Uraufführung im Jahre 1936 in Kopenhagen, als Bertolt Brecht noch an die baldige Überwindung der Hitler-Diktatur glaubte und seine Parabel mit der - auch nicht wirklich coolen - Rückkehr zu früheren Verhältnissen enden ließ, drechselte das talentierte Scheusal im skandinavischen Exil noch ein paar Jahre an seinem Text herum, bevor dieser weitgehend in Vergessenheit geriet. Seine deutsche Erstaufführung erlebte er erst nach Brechts Tod im Jahre 1962 am Landestheater Hannover, dessen Chefdramaturg Gerhard Reuter damals prognostizierte, bald werde das Stück „überall gespielt“. Die immanente Systemkritik setzte sich in der Tat bald „überall“ durch: Sechs Jahre später revolutionierten die „1968er“ die Republik; kurze Zeit später folgte der blutige „Deutsche Herbst“. Sie gilt manchen heute noch als aktuell, aber Brechts Text verstaubte weiter in den Regalen. „Wir brauchen eine neue Erzählung“, sagt eine der Figuren in Hermann Schmidt-Rahmers Neufassung des Stücks am Schauspiel Essen, und eigentlich münzt sie das auf die politische Lage im Land der Tschichen und der Tschuchen. Aber für das Stück gilt der Satz nicht minder.
Schmidt-Rahmer hat sich das zu Herzen genommen. Er bleibt bei der Dramaturgie des Lehrstücks, in weiten Teilen auch bei der Diktion von Brecht, aber er peppt Inhalt und Sprache immer wieder durch ironische, meist politisch zugespitzte Anklänge an neudeutsche Befindlichkeiten auf, die oft zum Schmunzeln verführen, häufiger aber noch ganz brechtisch zum Klassenkampf aufrufen. Da ereifern sich die Besitzenden über die leistungsfeindliche „soziale Hängematte“, der Pächter Callas, in eine finanzielle Schieflage geraten, jammert, dass er eine „kapitalmarktfinanzierte private Altersvorsorge“ abzuschließen gezwungen werde, die Mär vom „Homo Oeconomicus“ und Adam Smiths „Unsichtbare Hand“ geistern durch Schmidt-Rahmers Fassung, und besonders allerliebst versucht eine der Figuren (welche, ist nicht immer leicht zu durchschauen) durch die Beteuerung Vertrauen aufzubauen, dass in ihrem Leben vor allem „Achtsamkeit und Hafermilch“ von Wichtigkeit seien. Und wenn er zur identifizierenden Selbstbeschreibung aufgefordert wird, antwortet der Angeklagte vor Gericht „weiß, heterosexuell…“ - Und wird vom Vorsitzenden harsch unterbrochen: „Nein, Sie sind Tschiche!“
Denn nicht um den Konflikt zwischen Arm und Reich soll es mehr gehen in diesem Musterländle, sondern um den zwischen Tschuchen und Tschichen. Pächter Callas (einer der Armen) hat seinen Pachtherrn de Guzman um Pachterlass gebeten, und der ablehnende Bescheid ist der Auslöser eines munteren Bauernaufstands: Die Pächter rotten sich im Zeichen der Sichel (noch ohne Hammer) zusammen und rufen die Revolution aus. Irgendwie scheinen die reichen Pachtherren das Ungleichgewicht zwischen Arm und Reich als Missstand anzuerkennen, denn sie kriegen die Flatter und bangen um ihre Privilegien. Sie rufen den dubiosen Blondo zu Hilfe, der zur Ablenkung von den schwelenden sozialen Konflikten den Rassismus erfindet. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich spielt keine Rolle mehr; stattdessen tragen im Land ab sofort via staatlichem Dekret die Tschichen (die Spitzköpfe) an allen Missständen die Schuld. Sie werden im Folgenden nach allen Regeln der Kunst gedisst, was im Extremfall auch die Todesstrafe bedeuten kann. Auch de Guzman ist ein Tschiche, und so wird er vor Gericht gestellt. Angeklagt hat ihn Pächter Callas wegen Pachtwucher; zur Verhandlung kommt stattdessen ein Sexualdelikt: In totalitären Staaten ist auch die Gerichtsbarkeit der Willkür unterworfen, und Callas‘ Tochter Nanna, eine Prostituierte, weiß das für sich zu nutzen. Der Gegensatz besteht nun zwischen Tschuchen und Tschichen; bezüglich der sozialen Stände existieren keine Unterschiede: Moralbegriffe sind out; alle agieren gleichermaßen egoistisch und habgierig. De Guzman wird zum Tode verurteilt, kommt aber durch ein kaum nachzuerzählendes Gewirr an Intrigen, Konflikten und Erpressungen am Ende wieder frei. Der status quo ante wird wieder hergestellt: Die reichen Pachtherren (hier „politisch interessierte Leistungsträger“ genannt) haben wieder das Sagen; Callas und Nanna leben wieder im Elend.
In der Entstehungszeit des Stücks 1934-36 erlag Brecht noch der Illusion, Hitlers Rassenpolitik diene im Wesentlichen der Ablenkung von den wahren Zielen des Dritten Reichs, nämlich der Niederschlagung des Klassenkampfes und der Etablierung und Sicherung des kapitalistischen Systems,. Tatsächlich entwickelt das Motiv des willkürlich etablierten Rassismus auch in der Essener Inszenierung erheblich weniger Wirkungskraft als das Motiv der Kapitalismuskritik, die dem Zuschauer nicht ohne Humor, aber doch mit dem Holzhammer eingetrichtert wird. Blondo trägt in Essen zwar nicht optisch, aber von seiner Diktion her Züge von Adolf Hitler - Stefan Diekmann hält bei seiner Figur die Balance zwischen einem unseriösen, schmierigen Manipulator und einem gefährlichen Diktator. Callas ist eine zugleich bauernschlaue und naive Karikatur eines Pächters, den Jan Pröhl im Stil von Dittsche, dem arbeitslosen Imbissbuden-Schwadroneur des Komikers Oliver Dittrich, gibt. Als seine Tochter Nanna überzeugt Silvia Weiskopf, die in der alles in allem recht schrillen, aufgedrehten Inszenierung ein wenig Klarheit und Ernsthaftigkeit behauptet. Insgesamt neun Schauspieler teilen sich 24 Rollen, und alle sind von Pia Maria Mackert in grotesk aufgeplusterte Ganzkörper-Kostüme gesteckt, die noch die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit entstellen und ein eigenständiges, großartiges Kunstwerk darstellen.
Trotz der alles in allem hervorragenden Schauspieler kann die Inszenierung nicht überzeugen. Viele Szenen vermochten den Rezensenten nicht zu erreichen, was zu einem geringen Teil an der 19. Reihe liegen mag, in die das ungnädige Schicksal den Rezensenten verbannt hatte. Eher jedoch ist die Ursache in der trotz Schmidt-Rahmers ordnender und unterhaltsamer Eingriffe nach wie vor wirren Dramaturgie des Stücks zu suchen. Der Regisseur muss das bemerkt haben, pappt er doch den wechselnde Rollen spielenden Akteuren in ihren Nebenrollen mit großen Druckbuchstaben geschriebene Berufsbezeichnungen auf die Kostüme, damit der Zuschauer weiß, woran er ist.
Weiß er trotzdem manchmal nicht. Was nicht schlimm wäre, denn die Botschaft kommt an: Der Kapitalismus ist böse, der freie Markt für freie Bürger ein Betrug. Die Inszenierung beschreibt eine ultrakapitalistische, egomane Gesellschaft voller habgieriger Individuen und meint, damit unsere heutige politische und wirtschaftliche Realität widerzuspiegeln. Mehrheitsmeinung ist das nicht, wie die Bundestagswahl gerade gezeigt hat. Die Mehrheitsgesellschaft sorgt sich um die Spaltung der Gesellschaft und fordert und fördert Konzepte, die eine solche Spaltung verhindern. Dass diese Konzepte unterschiedlich sind, je nach dem welcher Partei man zuneigt, gehört zum Wesen unserer Demokratie. Aber das Volk weiß politisch klug zu agieren. Es hat gerade eine ausgelaugte Regierungspartei zu einer Auszeit aufgefordert, aber gleichzeitig radikalen Konzepten von links und rechts eine Abfuhr erteilt.
Schmidt-Rahmer beschreibt in einem im Programheft abgedruckten Interview, dass er diese Verhaltensweise auf einen geschickten Betrug am Volk durch Politik und Wirtschaft zurückführt, dessen Mechanismen das Volk nicht durchschaue. Da unterschätzt er das Volk: Es ist klüger als Brecht. Es weiß, dass alle radikalen Konzepte sowohl in Unfreiheit als auch in staatlicher Armut und dem Rückgang individuellen Wohlstands enden. Der politisch interessierte Leistungsträger, den es heute auch in großer Zahl unter den Pächtern gibt, weiß das. Er weiß auch, dass es der Gesellschaft nur dann gut geht, wenn weder Tschichen noch Tschuchen, weder Pächter noch Pachtherren Not leiden oder unter Druck geraten. Er schätzt die Freiheit und will Brüderlichkeit.
Man sollte ihn nicht leichtfertig diffamieren, aber man darf die Wirkungskraft radikaler Systemkritik auf der Bühne testen - muss es sogar gelegentlich tun. Brechts Rund- und Spitzköpfe enttäuschen nicht wegen ihres politischen Anliegens. Sie enttäuschen wegen ihrer wirren Dramaturgie. Sie mögen weiter den Schlaf der Habgierigen und Ungerechten schlafen.