Beklemmende Poesie aus dem Straflager
„Alles, was ich habe, trage ich bei mir“, sagt Leopold Auberg. Was er bei sich trägt, ist ein Koffer – ein Koffer mit Kleidung, mit Erinnerungen, mit nützlichen Dingen, die ihm seine Verwandten mitgegeben haben. Überlebensgroß zeigt der große Videoscreen in der Mitte der Bühne graue Männerbeine in Soldatenstiefeln. Sie wirken wie ein Menetekel, sind vielleicht eine Metapher für Diktatur und grausame Härte. „Ich weiß, du kommst wieder“, sagt die Großmutter.
Irritierend naiv startet Leo, der 17jährige Rumäniendeutsche, in ein Zwangsabenteuer, das ihn für immer verändern wird. Es sind die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs, und der Junge aus Hermannstadt wird von den anrückenden Sowjets deportiert. Leo sieht die Deportation als Chance, weg zu kommen aus der verhassten Kleinstadt, aus dem „Fingerhut der Stadt, wo alle Steine Augen haben“. Seine Großmutter weiß: Er wird dem Tod ins Auge sehen. Leo wird unsäglichen Hungerqualen ausgesetzt sein; er wird im Arbeitslager schuften müssen bis zur völligen Erschöpfung. Er wird Gewalt und Schikane erleben, moralische Verwahrlosung und in seltenen Fällen auch Solidarität und kleine Zeichen von Mitleid. Leitmotivisch wird der Satz an diesem gut zweistündigen Theaterabend wiederholt, von Birgit Walter als Großmutter, aber auch von den Schauspielern, die sich die Rolle des Leo teilen. „Ich weiß, du kommst wieder“: Das ist der Satz, an den sich Leo klammern wird, der ihm zur Hoffnung wird und in Bastian Krafts Inszenierung zur Metapher für das Heimweh.
Bastian Kraft hat am Schauspiel Köln Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ auf die Bühne gebracht, der in einer ungewöhnlich ästhetisierenden Sprache in 64 meist kurzen Kapiteln die erschütternden Leiden der Rumäniendeutschen in sowjetischen Arbeitslagern schildert und der Autorin im Jahre 2009 den Literatur-Nobelpreis einbrachte. Müllers Roman beruht vor allem auf Gesprächen mit Überlebenden der Zwangslager, insbesondere mit dem 2006 verstorbenen rumäniendeutschen Lyriker Oskar Pastior, der selbst zu den Deportierten gehörte und mit dem sie das 2009 erschienene Buch ursprünglich gemeinsam schreiben und herausgeben wollte. Entsprechend weist nicht nur Müllers Roman, sondern auch Krafts Aufführung keine stringente Chronologie auf; der Vielstimmigkeit trägt Kraft Rechnung, indem er die Erinnerungsströme des Leo Auberg durch verschiedene Schauspieler sprechen und darstellen lässt, die teilweise noch weitere Rollen übernehmen.
Martin Reinke gibt in Krafts Inszenierung den alten Leopold, der sich 60 Jahre später erinnert. Reinke steht auf der zu Beginn fast nackten Bühne, sitzt später im Schein einer Leselampe an einem Schreibtisch und zitiert offenbar aus Leos Aufzeichnungen. Leo ist ein anderer geworden als der gutaussehende, dunkelblond gelockte junge Mann, der rechts von ihm in einem Glaskasten kauert – Reinke lässt die Traumatisierungen erkennen, die das Lager bei ihm hinterlassen hat. Meist ist es Justus Maier, der den jungen Leo spielt. Er ist fast über die gesamte Spielzeit eingepfercht in einen engen gläsernen Turm, aus dem er mit der Handkamera sein Gesicht filmt oder die Brotscheibe, die für die Zwangsarbeiter trotz unmenschlicher Schwerstarbeit die einzige Nahrung des Tages ist. Im Wechsel erzählen sie vom Abschied von der Stadt, von der 12 Tage währenden Fahrt im Viehwagen ins sowjetische Lager. Das Rattern der Züge mischt sich in den leisen, aber suggestiven musikalischen Soundtrack von Björn Deigner: Leo hat bald begriffen: Solange die Züge fahren, werden die Reisenden nicht exekutiert. Die Illusion von der Deportation als Chance hat Leo schnell verloren.
Maier erinnert sich an die „Rendezvous“ – was für ein schönes, altmodisches Wort, das an frühe Liebeserlebnisse denken lässt. (Aus Herta Müllers Roman wissen wir von der Homosexualität des Protagonisten; in der Aufführung spielt sie kaum eine Rolle.) Diese Rendezvous hatten keine Romantik, jegliche „Verabredungen“ im Lager waren verboten. Für jedes Rendezvous drohte das Gefängnis, und das Gefängnis bedeutete meist den Tod. Hektisch wird das Gesicht von Maier, das in vielfacher Spiegelung auf den Videoscreen projiziert wird. Die Episoden aus dem Lager werden düsterer und erbarmungswürdiger. Schnell wird den Insassen die Würde geraubt: Stefko Hanushevsky berichtet vom Verlust des Schamgefühls; Katharina Schmalenberg als Trudi Pelikan ist eine der „Kalkfrauen“ auf der Baustelle, die mit ihren Schultern einen unermesslich schwer beladenen Pferdekarren zieht (und später aufgrund ihrer erfrorenen, durch den Pferdewagen von der Blutversorgung abgeschnittenen Zehen nicht mehr laufen kann). Berührend ist Schmalenberg als schwachsinnige „Planton-Kati“, über die selbst der brutale Kapo Tur Prikulitsch keine Macht hat. Und geradezu schmerzhaft ist „der Kriminalfall mit dem Brot“: die Geschichte von Karli Halmen, der seinem Kumpel Albert Gion das fünf Tage lang gesparte Brot klaut und dafür von allen auf brutalste Weise erniedrigt und krankenhausreif geprügelt wird. Die Bühne hat sich mittlerweile gefüllt: unter anderem mit zahlreichen Kühlschränken, die per Theaterzauber immer mal wieder ihren Inhalt wechseln: Mit ungezügelter Wut und schwerem Seil drischt Stefko Hanushevski auf eines dieser Küchenmöbel ein. Als Karli aus der Lager-Klinik zurückkehrt, spricht niemand das Thema mehr an: „Das Brotgericht verhandelt nicht, es bestraft.“
Der Hunger ist es, der die zentrale Rolle in Müllers Roman und in Krafts Aufführung einnimmt. Er gefährdet die Moral, bringt die Zwangsarbeiter um den Verstand und bestimmt ihr Denken und Handeln. Der Hunger wird personalisiert; die Lagerinsassen erfinden den „Hungerengel“, als der Nikolaus Benda an Seilen von der Decke des Kölner Depot 1 herabschwebt. Dunkle Schatten wirft er auf der Videowand. Damit nicht nur die moralischen Verbrechen der Sowjets gezeigt werden, wird in einer Rückblende auch vom Verschwinden eines Juden aus Hermannstadt berichtet. Auch hier schwebt ein Lebewesen von der Decke – ein totes allerdings, ein Schaf. Das Lamm Gottes, das im Alten Testament als Schutzzeichen gegen die Tötung aller Erstgeborenen dienen sollte? Wir wissen es nicht, aber wir bewundern die bildstarke Sprache der Inszenierung ebenso wie die der Autorin. Herta Müllers Text wird manchmal zum düsteren, suggestiven Soundtrack. Man mag emotional nicht mehr eintauchen in die Grausamkeiten, die geschildert werden, aber die Komposition der Worte verhindert jede Flucht. Gleichermaßen suggestiv, aber ganz leise ist die Musik; kunstvolle Live-Bilder entstehen auf der Videowand, wo die Figuren gedoppelt oder vervielfacht werden und wo Schattenspiele eine bedrückende Atmosphäre schaffen. Beklemmend schön sind viele Passagen dieses düsteren Theaterabends, und wer dem Abend diese Schönheit vorwerfen will, der lese den Roman von Herta Müller: Auch der hat poetische Qualitäten und überzeugt durch seine sprachliche Ästhetik. Der Regisseur jedenfalls hat aus den Sprachbildern von Herta Müller im Verein mit den Videos von Jonas Link, der Musik von Björn Deigner und den Choreografien der Schauspieler ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk geschaffen, dem man sich nicht entziehen kann.