Übrigens …

Agenda im Köln, Theater Der Keller

Mit der Kaufkraft kommt die Würde zurück

Schnell wird die Überwachungskamera geputzt, und dann kann es losgehen. Gar so abschreckend ist das Großraumbüro mit seinen nur sechs Besprechungstischen nicht, an dessen Rand sich der „Warteraum“ erstreckt. Ein lebender Aktenturm walzt über den Flur, und die Mitarbeiterinnen vollführen eine etwas hektische Stempel- und Schreibmaschinen-Orgie. Das kann doch eine schöne Win-Win-Situation werden: Zwölf engagierte, aber von Bürokratie und Arbeitsmenge überforderte Jobcenter-Beraterinnen und einer, der sich als „zwischen männlich und divers“ bezeichnet, sitzen gut 20 arbeitslosen Bewerbern jeglichen Geschlechts und Alters gegenüber, die von der Straße wollen und sich um einen Job im „Zentrum“ bemühen, wie das Jobcenter in der Stückentwicklung von Regisseur Christoph Stec und seinen Kolleginnen genannt wird. Die erfolgreiche Vermittlerin hat die Chance, aufzusteigen in die „5. Etage“ und damit dem Stress des Routine-Alltags zu entfliehen, und der erfolgreiche Bewerber entflieht der Grundsicherung: Die beträgt für Alleinstehende seit dem 1. Januar 2021 monatlich € 446,00 und soll die Kosten der gesamten Lebenshaltung inkl. Ausgaben für Freizeit, Kultur und Bildung abdecken. Wie das geht? „Immer lächeln“, bläut die Bürovorsteherin CHANG13° den 23 Bewerbern ein, die sie stets freundlich durch ihren Parcours moderiert. Irgendwann beschleicht uns die Ahnung, dass dieser ständig wiederholte Ratschlag nicht nur für den Bewerbungsprozess gilt, sondern auch das einzige Rezept ist, um mit 446 Euro im Monat ohne Suizidgedanken durchs Leben zu kommen.

Die Bewerber – also diejenigen, die unvorsichtigerweise ein Ticket gekauft haben und bei der partizipativen Aufführung von Agenda nun aktiv mittun dürfen – sind in sechs Gruppen eingeteilt. Der Schreiber dieser Zeilen findet sich gemeinsam mit einem sympathischen jüngeren Paar in Gruppe 5 wieder und hat ideale Startvoraussetzungen: Das Lächeln hat er schon in 24 Jahren aktiver Personalarbeit gelernt, und heute darf er in seiner ersten Station ein Bewerbungsvideo drehen. Drei Schwächen musste er benennen, die von der Beraterin Johanna Bodemer in Windeseile in Stärken umformuliert wurden, und los geht’s – kein Problem für einen Ex-Profi wie mich, aber schon mal eine schöne Lockerungsübung. Da ist die Lockerungsübung beim Tanzen schon schwieriger für den Unterzeichner, aber Bewegung schafft bekanntlich Energie. Denis Okatan, begleitet von zwei hektischen Assistentinnen, führt ein Interview mit uns – besser gesagt: Er stellt investigative Fragen, von denen die meisten bei Bewerbungsgesprächen nicht erlaubt wären: Krankheiten, psychische Störungen und Gefängnisaufenthalte in der Familie werden abgefragt. Unangenehm wird das nie – aber es könnte, wie die drei Schauspielerinnen und Schauspieler demonstrieren: Denis wird befragt, immer hektischer, immer aggressiver, bis dass die Situation eskaliert und Denis durchdreht. Wir haben Verständnis.

Okatans Büro sieht reichlich ungepflegt aus: Überall liegen geschredderte Papierschnipsel auf dem Boden. Mit den Anforderungen der Bürokratie und der zunehmenden Belastung haben die Mitarbeiterinnen des Zentrums offenbar Probleme. Ja, wer hat ihnen und den Bewerbern all das eingebrockt? Der gute Geist des großen Gerhard Schredder weht durch alle Flure und Büros, und allenthalben hängen die Plakate mit dem Konterfei des ehemaligen Bundeskanzlers an der Wand – mit seinen Kernaussagen zur großen Hartz-IV-Reform: „Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft“, oder: „Keine Solidarität für Menschen, die arbeiten können, aber nicht wollen.“

Da kann man ja drüber reden. Auch wenn das Recht auf selbstbestimmte Hängematte immer mal wieder als wünschenswerter Zustand durchklingt, wird die Leistungsgesellschaft in der Aufführung des Ensembles2030 vergleichsweise milde kritisiert, und das ist gut so. Aber die Auswüchse derselben sind unübersehbar: „Schlaf wird völlig überbewertet“, heißt es da plötzlich. Wir befinden uns in einem kollektiven Trainingscamp: „Schwächen hast du nicht. Haben die anderen Schwächen, nutze sie aus. Das Leben ist Krieg.!“ – Hübsch wird dieses Bild ins Absurde überzeichnet: „Die Tastatur ist dein Maschinengewehr, die Maus ist deine Handgranate.“ Wenn man wie der Unterzeichner stets in sozial verantwortungsvoll handelnden Unternehmen gearbeitet hat, kann man darüber lachen. Aber diesen – teilweise sogar künstlich erzeugten – Leistungsdruck hat der einstige Kämpfer für werteorientierte Personalarbeit durchaus beobachten können, ohne nachhaltig einschreiten zu können. Freude hat er dennoch an der großartigen Choreografie von Yana Novotorova: Wie Nonnen wirken die Performerinnen, wenn sie ihre graukarierten Jacketts über die Köpfe gezogen haben, ihre einheitlichen weißen Unterkleider die Schwesterntracht karikieren, und sie ihr liturgisches Lied murmeln: „Im Namen des Heiligen Marktes – Agenda“. Die Beraterinnen und Berater hängen an den Lippen der Performance-Coaches wie bei einem Sektenführer.

Die 23 Bewerber ziehen weiter. Denise Abrat informiert über die „Konformitätsansprüche des Hauses“ und lässt uns die Zusammensetzung des Grundsicherungsbetrages erraten (der Profi, also ich, hatte alles falsch!). Akua Ampedu, die ihre Bürowände mit den typischen Themen und Fragen der Rassismus-Debatte gepflastert hat, berichtet, dass sie keinen Rassismus-Erfahrungen mehr ausgesetzt sein, seit sie im „Zentrum“ arbeite und Leistung bringe: „Mit der Kaufkraft kommt die Würde zurück.“ Zuckersüß und ganz ernsthaft erzählt sie das, und es dauert eine Weile, bis dass der Zynismus dieser Aussage ins Hirn dringt. Fenja Ludwig aber, die wunderschöne Uniformen für unsere spätere Tätigkeit als „Vollzeit-Aktenordner“ oder „Anspitzerin“ entwirft, stachelt zum Widerspruch gegen das System auf: Sie, die Arbeitswillige und Risikofreudige, die aus der Arbeitslosigkeit heraus ein eigenes Designstudio eröffnen wollte, wurde im „Zentrum“ schnöde abgewiesen. So frustriert man Leistungswillige und treibt sie in die Illoyalität.

Es wird Nacht im „Zentrum“ Die Beraterinnen ziehen sich in ihre Schlafkojen zurück – ja, man hatte das von Beginn an versteckt angedeutet: Wer den Job bekommt, wird hier einziehen und sein ganzes Leben der Arbeit widmen. Doch es kommt wie es kommen muss: Niemand von uns erhält den Job. Tante Jana Klimscha erzählt den aneinander gekuschelten Mädchen noch die wunderschöne Geschichte von Gerhard Schredders Agenda und dem erfolgreichen Kampf gegen die Faulen. Oblomow fällt uns ein – bald wird Luk Perceval am Schauspiel Köln Gontscharows Geschichte im Lichte der Empfehlung der Bundesregierung erzählen, sich während des Corona-Lockdowns wie ein „fauler Waschbär“ zu verhalten und sich auf die Couch zu legen. Die Mädchen beschwören mit vielen Plattitüden den tollen Zusammenhalt im Büro und schlafen ein.

Als sie aufwachen, sehen wir sie ungeschminkt nach Jahren erfolgloser stressiger Arbeit: verkabelt, lädiert, kaputt, vollkommen fertig. „Immer lächeln“, sagt die Bürovorsteherin und schickt sie an die Arbeit. Dort herrscht nur noch Agonie. Die Telefone klingeln, wie zu Beginn in der ersten Szene. Willkommen im Zentrum.

Übrigens: Eine hat trotz ausbleibender Beförderung die 5. Etage erklommen. Sie ist leer. Das Management von Gerhard Schredders Agenda ist ein Fake. Die Aufführung geht noch zehn oder zwanzig Minuten weiter – und läuft ins Leere wie Schröders Agenda. Geschenkt. Bis dahin hat sie mit ihrer Ironie, ihrer Kreativität und ihrer eigenwilligen Mischung aus Schauspiel, Performance, Choreografie und Improvisationstheater nicht nur überzeugt, sondern Spaß gemacht. Ob wir so viel Neues erfahren haben? Ach… ich weiß nicht. Aber wir sind auf unterhaltsame Weise ins Nachdenken gekommen. Und das mit der Partizipation war gar nicht schlimm. Gehen Sie alle mal hin!