Metropol im Köln, Schauspiel

Die Partei hat immer Recht

Die Sowjetunion. Das Arbeiter- und Bauern-Paradies im Jahr 1936. Hier herrscht das Volk, stellt Charlotte beglückt fest. Es gibt keine Korruption, aber Bildung für alle; die Emanzipation der Frau ist vollständig umgesetzt. Die Frau benötigt nicht (wie im Westen) die Erlaubnis des Mannes, um zu arbeiten: Charlotte ist das beste Beispiel dafür. Als stramme Kommunistin vor den deutschen Nationalsozialisten geflohen, arbeitet sie bei der OMS, der Abteilung für Internationale Verbindungen im sowjetischen Nachrichtendienst Komintern. Sie erkennt die Unzulänglichkeiten im Alltagsleben, doch sie blickt optimistisch in die Zukunft: Der Umbau eines ganzen Landes und der Aufbau einer idealen Gesellschaftsstruktur braucht eben Zeit. Charlotte ist glücklich, an diesem Aufbau mitwirken zu dürfen.

In Armin Petras‘ Inszenierung am Schauspiel Köln legt Yvon Jansen ihre Figur zu Beginn fröhlich und gar ein wenig naiv an. Ihr Mann Wilhelm, auch er im Dienst der guten Sache beim Komintern, wirkt schon in Eugen Ruges Roman Metropol ein ganzes Stück grauer, humorloser und verbohrter als sie. Ronald Kukulies trifft die Romanfigur perfekt: häufig theoretisierend, irgendwie weltfremd und etwas spießig. Sein Glaube an den Genossen Stalin ist nicht zu erschüttern. Dessen Säuberungsprozess strebt im Jahre 1936, als der Roman und die Aufführung beginnen, seinem Höhepunkt zu. Traumatische Erfahrungen werden auf Wilhelm und Charlotte zukommen. Bald werden sie ihrer Ämter enthoben und im Hotel Metropol kaserniert werden, wo sie fast siebzehn Monate lang auf ihre weitere Verwendung oder aber auf ihre Verhaftung warten. Eine Verhaftung würde wohl den sicheren Tod bedeuten. Sie wissen das, sie ahnen das, sie verdrängen das. Oder, wie Ruge es ausdrückt, ihre Überzeugungen sind stark, auch wenn die Gewissheiten schwinden. Charlotte und Wilhelm werden ihrer sowjetischen Erfahrungen zum Trotz ihr ganzes Leben dem Sieg des Sozialismus widmen. Eugen Ruge hat davon in seinem ein paar Jahre zuvor erschienenen Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts erzählt.

Natürlich gibt es Zweifel. Aber die versucht man zu verdrängen. Eine erste Irritation ergibt sich, als Charlotte liest, dass ihr früherer Bekannter und Kampfgenosse Alexander Emel als Mitglied einer faschistischen Kampfgruppe in der Sowjetunion verhaftet und zum Tode verurteilt wird. Absurd, denkt Charlotte: Emel war Jude, wurde von den Nazis verfolgt und war ebenfalls in den Sowjetstaat ausgewandert, um beim Siegeszug des Sozialismus zu helfen. Doch der Absurditäten werden immer mehr: Sie erreichen einen Höhepunkt, als Charlottes und Wilhelms einstiger Vorgesetzter Melnikow, inzwischen zum Chef des Geheimdienstes und damit auch der „Abteilung für Internationale Verbindungen“ ernannt und von Wilhelm gerade noch als der „letzte Hoffnungsträger der aufrechten Kommunisten“ bezeichnet, wegen „Verbindungen ins Ausland“ angeklagt und erschossen wird. - Doch da sind wir bereits weit in der Geschichte fortgeschritten. Zunächst einmal sind Charlotte und Wilhelm noch auf ihren Posten. Links und rechts werden Freunde, Vorgesetzte und Kollegen verhaftet. Sie verschwinden spurlos oder werden in Schau-Prozessen zum Tode verurteilt. Misstrauen wird gesät – auch besten Freunden kann man nicht mehr trauen, Denunziationen sind an der Tagesordnung. Soll Charlotte ihre Bekanntschaft mit Emel proaktiv anzeigen?

Wahrheit ist, was jetzt nützt“, glaubt Wilhelms erste Ehefrau und Charlottes vermeintliche Freundin Hilde Tal, als Charlotte sie in der Angelegenheit Emel um Rat fragt. Wenig später wird Hilde Charlotte denunzieren. Die Figur der Hilde ist bei Sabine Waibel in exzellenten schauspielerischen Händen: Mit ihrer flirrenden Nervosität, ihrer Angst und ihrer Abwehrhaltung gegenüber jeglichen Kontaktversuchen macht sie verständlich, wie ein Mensch in einer solchen Bedrohungssituation zum Denunzianten werden kann. War die Ursache für Hildes Verhalten anfangs vielleicht in einer persönlichen oder beruflichen Rivalität zu suchen, liegt sie später im Wissen um die Unberechenbarkeit und Brutalität des Systems. Als ihr ebenfalls als Kommunist aus Deutschland geflohener Mann und ihre Tochter unter Aberkennung der sowjetischen Staatsbürgerschaft ins Nazi-Reich abgeschoben werden, packt Hilde ihre Koffer und wartet auf die Schergen, die sie holen kommen. „Wahrheit ist, was jetzt nützt“? Hilde hat die Wahrheit über das System begriffen.

Wahr ist alles in Eugen Ruges Roman - oder, um es mit den Worten des Autors zu sagen, „die wahrscheinlichen Details sind erfunden, die unwahrscheinlichen aber sind wahr". Ruge muss es wissen: Charlotte und Wilhelm sind seine Großmutter und sein Stiefgroßvater. Erzählt haben sie nicht viel über ihre sowjetischen Erfahrungen, aber Ruge hat recherchiert – im Familienarchiv, vor allem aber im „Russischen Staatsarchiv für soziopolitische Geschichte“, das sich ihm auf wundersame, wenn auch etwas kafkaeske Weise öffnete. Und er hat einen Roman geschrieben, der nicht nur das stalinistische Terrorsystem aus der Perspektive unmittelbar Betroffener und Beteiligter beleuchtet, sondern auch aufzeigt, „was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind“, wie Ruge es ausdrückt. Bei Petras ist es der Begriff Wahrheit, der immer wieder fällt. Man könnte ihn noch um das Wort „Wahrhaftigkeit“ ergänzen.

Petras gelingt es, den 420 Seiten langen Roman in knapp drei Stunden auf die Bühne zu bringen und dabei nicht nur keinen der Hauptstränge aus dem Auge zu verlieren, sondern sogar noch eine Reihe von Verästelungen zu berücksichtigen. Dabei kommt er nahezu vollständig ohne eine Erzählerstimme aus, die – wie in so vielen Romanbearbeitungen im Theater üblich - lange Passagen einfach nacherzählt oder wörtlich zitiert. Olaf Altmann hat dafür eine so sinnfällige wie praktische Bühne aus 36 quadratischen Tischen gebaut, die wahlweise zum Gerichtssaal, zur Kneipe, zur Wohnung oder zum Tanzsaal werden – und zwischen denen man auch einmal ganz allein und kafkaesk verloren gehen kann. Die oft ultrakurzen Spielszenen gehen entweder fließend ineinander über oder aber sie werden von sowjetischen Propaganda-Liedern, angedeuteten Straßenszenen oder Paraden unterbrochen. Petras scheut nicht vor Humor, Slapstick und Ironie zurück, so dass die Aufführung einen gewissen Show- und Unterhaltungswert hat. Doch die Ängste, das Misstrauen und die zunehmende Beklemmung der einem unvorstellbaren Willkürsystem ausgesetzten Protagonisten bleiben jederzeit präsent.

Unvorstellbar erscheint auch das Potential des Menschen zur Verdrängung – und das nicht nur auf der Seite der Opfer, sondern auch auf der Seite der Täter. Im Hotel Metropol verkehrt auch der Chef-Ankläger des Systems, Wassili Wassiljewitsch Ulrich, der, wie wir im Abspann erfahren, für fast 19.000 Todesurteile verantwortlich zeichnete. Nikolaus Benda gibt diesen Massenmörder und Henkersknecht als einen unsympathischen, rauen Gesellen, mit dem man dennoch bisweilen widerwillig mitfühlt. Leichen pflastern seinen Weg, doch eigentlich träumt Ulrich von viel zarteren Toten: Kann ein Schmetterlingssammler ein schlechter Mensch sein? Wenn es um MeToo geht, ist er überraschend skrupulös: Er beneidet die Kollegen, die mit den Frauen der Angeklagten schlafen, die sich vergeblich prostituieren, um ihre Männer zu retten. Ulrich bringt das nicht fertig – ein einziges Mal vielleicht, aber ob es zur Vollendung des sexuellen Missbrauchs kommt, lässt die Inszenierung offen. Wenn Ulrich über seine Unfähigkeit nachdenkt, sein Leben als privilegierte, aber auch verhasste Persönlichkeit zu genießen, gehört dies zu den beklemmendsten, gruseligsten Szenen der Aufführung.

Charlotte und Wilhelm dürfen das Hotel Metropol und die Sowjetunion im Februar 1938 verlassen und gehen nach Paris. Als die Nationalsozialisten die Stadt einnehmen, gelingt ihnen die Flucht nach Mexiko. Nach dem Krieg arbeitet Charlotte an verantwortlicher Stelle im Parteiapparat der DDR; Wilhelm wird als Parteisekretär in die Kleinstadt Babelsberg abgeschoben und macht einen pompösen Job daraus. Bis zu ihrem Lebensende sind beide überzeugt: Die Partei hat immer Recht.