Apokalypse – oder Rettung in letzter Sekunde?
„Nun klingt der Wind nicht mehr wie früher ... Die Vögel klingen anders ... Für wen verändert sich nicht die Zeit?“ - 40 Jahre ist es her, seitdem im Jahre 1981 das Theater an der Ruhr in Mülheim eröffnete. Zunächst spielte man jahrelang vorwiegend in der Stadthalle; irgendwann war das alte Solbad an der Akazienallee, die eigentliche Heimat des Theaters, renoviert, und der wunderschöne Bau mitten im Grünen wurde zur Hauptspielstätte. Über viele Jahre war Roberto Ciulli, der Gründer und Spiritus Rector des Theaters, der einzige Regisseur. Selten einmal durften andere den Regiestab in die Hand nehmen - mit Ciullis eingeschworenem Team war der Erfolg vorprogrammiert. Echte Flops gab es selten, grandiose Highlights in der Provinz häufiger. Seit einigen Jahren inszeniert Philipp Preuss am Theater - erst vereinzelt, dann immer häufiger. Vor zwei Jahren trat er in das künstlerische Leitungsteam ein; der 87jährige Ciulli aber bleibt weiter an Bord und ist die Identifikationsfigur am Theater. Eleganter hat ein Intendantenwechsel noch nie stattgefunden.
Roberto Ciulli erklimmt einen Tritthocker. Leise trägt der 87jährige mit seinem weichen, auch nach 56jährigem Aufenthalt in Deutschland immer noch deutlich spürbaren Akzent den hochpoetischen Text seines Altersgenossen Johannes Kühn vor, aus dem die Eingangszeilen dieser Rezension stammen: „Ich mag nicht mehr.“ - Götterdämmerung in Mülheim, Endzeittheater wie Ciulli es uns 40 Jahre lang immer wieder vorgespielt hat: poetisch, melancholisch, verrätselt oft, hochpolitisch meist. Was für ein berührender Spielzeitauftakt 2021 im Theater an der Ruhr! Ciulli geht ab - und kommt an diesem Abend auch nicht wieder.
Aber er zeichnet verantwortlich für die Regie dieser Auftakt-Inszenierung. Er zeigt die Uraufführung eines neuen, ursprünglich als Opern-Libretto geschriebenen Stücks des in Russland als Systemkritiker angefeindeten Autors Vladimir Sorokin: Violetter Schnee. Viele von Ciullis Weggefährten der letzten Jahrzehnte stehen auf der Bühne: seine Muse Simone Thoma, seine späte Entdeckung Dagmar Geppert, Albert Bork, Fabio Menéndez, Thomas Schweiberer. Endzeit herrscht auch in Sorokins Stück. Der Klimawandel hat die fünf Jungs und Mädels am Schlafittchen. Seit Wochen sind sie eingeschneit, irgendwo im Wald, irgendwo in einer einsam gelegenen Datscha. Sie scheinen unverrückbar aneinander gekettet durch die unerbittlichen Naturgewalten. Das Gebälk kracht und knarzt unter dem Schnee; seit Wochen beginnt der Tag damit, dass man den Schnee vom Dach schaufeln muss, damit die Bude nicht einstürzt. Die Nöte sind existenziell: Zwar hält das Dach, aber die Dielenbretter sind längst unvollständig - das Holz benötigt man zum Heizen des Kamins oder es wird bei der Erschütterung durch neue Schneelawinen zerstört, die Adriana Kocijans Soundtrack übertönen. Auch die Möbel werden verfeuert; das wenige gute Brennholz wird fürs Brotbacken reserviert. In der Not greift man zur Bücherverbrennung und weiß: Die dicksten Bücher brennen am besten. So trifft es den „Zauberberg“, „Ulysses“ und den „Mann ohne Eigenschaften“. Kulturgüter gehen zugrunde um des nackten Überlebens willen. Nackt im wahrsten Sinne des Wortes: Dagmar Geppert zieht sich aus, bevor sie einen Stuhl ins Feuer wirft, den sie zuvor mit brennbarem Öl eingerieben hat. Dem Hunger begegnet man mit allem, was da ist: Man dankt Struppi für seinen rechtzeitigen Tod. (Nee, nee, nicht, was Sie denken: Nicht der Hund wird gegessen, sondern sein Hundefutter. Das immerhin weckt Phantasien von köstlichen Auflauf-Rezepten.)
Immer mal wieder schimmert solcher Humor durch die düsteren, poetischen Zeilen des Stücks. Doch dieser Humor ist bitter, fast zynisch. Die Nöte der Eingeschlossenen sind existenziell und manche ihrer philosophischen Gedanken existenzialistisch. Man denkt an Sartres „Huis Clos“; Auswege aus dieser Hölle scheint es nicht zu geben. In einer solchen Zwangsgemeinschaft gibt es Konflikte, ab und zu erleben wir Wutausbrüche; Dagmar Gepperts Natascha deckt eine (zuvor bereits einmal bildlich angedeutete) Liebesbeziehung mit Jan (Albert Bork) auf, die dessen Gattin Silvia (Simone Thoma) jedoch recht unbewegt zur Kenntnis nimmt. Langsam, fast unmerklich nimmt die Eskalation zu. Die Hölle sind die anderen? Ja und nein. Letztlich schweißt das Leben in der Katastrophe die fünf sogar zu einer Art Solidargemeinschaft zusammen, in der die eine Brot backt, der andere das Dach säubert, der Buchhändler (Thomas Schweiberer) seine Schätze opfert zum Schutz gegen das Erfrieren - und ansonsten Stille, Langsamkeit und Poesie herrscht.
Und das nicht nur, um Kräfte zu schonen. Wir haben es mit fünf Bildungsbürgern zu tun: neben dem Buchhändler einer Bratschistin (Thoma), einem Paläontologen (Fabio Menéndez), einem Homöopathen (Bork) und der Hausherrin Natascha. Gott ist nicht existent in der gehobenen Gesellschaft; man hofft lieber auf die Armee, wenn es um Evakuierung und Rettung geht. Aber man flüchtet sich doch in Rituale, in eine merkwürdige Art von Dankgebet vor dem Essen beispielsweise, in dem dem toten Hund, der Speise und dem Feuer gehuldigt wird. Man zitiert Kant und lässt sich beim Hundefutter über die Würde des Menschen aus, reflektiert das Leben vor und nach der Katastrophe und sucht nach Analogien in Mythen und Märchen - so wie ja auch dieses Stück von Sorokin eine Parabel zu sein scheint, die die Verhaltensweisen des Menschen in existenziellen Krisensituationen durchspielt. Und man kennt seinen Tschechow: Fabio Menéndez hält, bevor er ihn den Flammen übergibt, eine Rede an den Fernsehtisch wie Gajew im „Kirschgarten“ an den Wohnzimmerschrank. Auch der „Kirschgarten“ ist ein Abgesang an eine untergehende Welt, und die Zukunft der Combo rund um die Ranjewskaja ist ebenso unsicher wie sie es für die Menschen in Sorokins neuem Stück sein wird.
Sorokins Figuren wissen, dass das Ende der Katastrophe nur in eine neue Katastrophe münden kann: „Wenn der Frühling kommt, taut der Schnee. Dann wird ganz Europa davonschwimmen.“ Tatsächlich verziehen sich am Ende die dunklen Wolken. Der Mond kommt heraus; der Schnee färbt sich violett. Erleben wir die Apokalypse oder die Rettung? Vielleicht scheint morgen die Sonne. Jacques weiß: „Wir müssen wieder auf das Dach klettern, und um uns herum wird das europäische Meer sein.“ Ciulli glaubt, dass die Menschheit erst durch die Katastrophe zur Umkehr und Besinnung finden kann. Und so hoffen wir denn, dass Nataschas zu Beginn geäußerte, damals sehr merkwürdig anmutende Prognose doch noch Wahrheit wird: „Wenn alles vorbei ist, werden wir diese Zeit als die glücklichste unseres Lebens in Erinnerung behalten.“