Wenn der Frosch kocht, ist die Menschheit ausgerottet
Da denkt man glatt, der Wolf Vostell hätte auf dem Weg zu einer seiner Installationen ein paar Fernsehgeräte verloren. Christian Blechschmidt hat für Büchners Dantons Tod im Wuppertaler Opernhaus ein tolles Bühnenbild gebaut: Ein paar TV-Geräte stehen in einem Raum herum, von dem man nicht weiß, ob er eine Baustelle oder das Überbleibsel einer Katastrophe ist. Hinten wehen ein paar Segel auf einer angedeuteten Wasser-Oberfläche. Wohin wird das Staatsschiff segeln? Wohin spült uns das Meer, wenn der Wasserspiegel steigt, weil Gletscher und Polarkappen endgültig abgeschmolzen sind?
Es geht der Regisseurin Anna-Elisabeth Frick nicht um Danton oder die Französische Revolution. Es geht um die Zukunft der Menschheit. Auf allen Vieren kraucht Stefan Walz über die Bühne, suchend, mit blutunterlaufenen Augen. Mit schweizerischem Zungenschlag gibt er Ratschläge zum Kochen eines Froschs: Wirft man den in einen Topf mit heißem Wasser, springt er einfach hinaus. Will man ihn kochen, sollte man ihn in kaltes Wasser tunken und den Topf langsam erhitzen. Der Frosch merkt das nicht - und stirbt. Man begreift: Der Frosch sind wir. Die Temperatur steigt, und wir genießen die schönen Sommer. Die schnellen Autos. Die billigen Flugreisen. Der Transfer in unsere Gegenwart fällt nicht schwer, aber trotzdem wirkt die Aufführung nicht platt, sondern sie hinterlässt einen nachdenklich und mit dem lästigen Gefühl, man müsse wohl etwas ändern. Noch verdrängen wir die Katastrophen: Das Wuppertaler Opernhaus gehörte zu den Flutopfern und war gerade wochenlang unbespielbar. Wir wissen: Irgendwann werden wir abstürzen, wenn wir nicht ganz rabiat auf die Bremse treten. Wie aber müssen die Regeln aussehen, um den Klimawandel aufzuhalten?
Drei Monologe zeichnen drei radikale Entwürfe. Frick versetzt sich in die Köpfe der Protagonisten aus Georg Büchners Revolutionsdrama: Wie würden Robespierre, Danton und St. Just mit dem revolutionären Umbruch umgehen, der der Welt in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht? - Aus dem Volk heraus (sprich: aus dem Parkett) tritt Robespierre auf, der Vertreter des Dritten Standes, Tugendwächter und Terrorherrscher. Julia Meier gibt ihn mahnend ob der Bedrohung des Ökosystems, des Aussterbens der Fischpopulation, der Verschlechterung der Luftqualität. Der Konsum wird angeprangert, jeglicher Luxus ist verdächtig, solange es nicht der eigene ist: ein lecker Sektchen, schicke Strumpfhosen und edle Marlon-Accessoires begrüßt Meier wie besoffen vor Glück. Und doch gibt sich Frau Robespierre als eine von den ganz radikalen Friday-for-Future-Ladies aus: „Wir werden ein Blutgericht über unsere Feinde halten!“, lautet ihre Drohung; ihre Forderung fasst sie griffig zusammen: „Die Tugend muss durch den Schrecken herrschen!“ Denn: „Das Laster ist zu gewissen Zeiten Hochverrat.“Wenn bei ihrem Kampf fürs Klima ein paar Leute hopps gehen - so what? Meiers Hände sind blutbefleckt. Robespierre, die Unbeugsame, kennt kein Erbarmen: Sie will ihre Feinde vernichten.
Die mit dem Laster, das ist natürlich Danton. In Wuppertal: Georgette Danton aka Annou Reiners, lebenslustig, tanzend im schulterfreien Kleid. Ihre alte Kampfgefährtin Robespierre ist längst zur Gegnerin geworden; dogmatische Haltungen lehnt Danton ebenso ab wie die Radikalität von Robespierres Konzepten: „Ihr wollt Brot - und sie wirft euch Köpfe hin.“ Danton vertritt liberale Werte; ein jeder und eine jede möge nach seiner oder ihrer Façon selig werden, solange nicht die Grenzen allgemeiner Moral gesprengt werden. Danton akzeptiert: „Die Welt ist das Chaos.“ Die Segel des Bühnenbildes hat Reiners gleich zu Beginn ihres Auftritts abgerissen - ist ein Aufbruch in neue Zeiten unter ihr überhaupt vorstellbar? Danton ist versöhnlicher als Robespierre (und später St. Just), in der Interpretation von Reiners aber auch nahe daran, die Selbstoptimierung zum obersten Ziel auszurufen. Die Welt von Georgette ist fröhlicher - das versinnbildlicht auch die nun stark aufdrehende Musik, zu der Annou Reiners abrockt. Leider ist die Schauspielerin so schwer zu verstehen, dass man sich mehr aufs Zuhören konzentrieren muss als dass man ihren Verlockungen erliegen kann.
Großartig sind immer wieder die Zwischenspiele des „Conférenciers“ Stefan Walz, der nun seinen zeitlich längsten Auftritt hat und wieder eine düstere Parabel erzählt: Ein Körperteil nach dem anderen tut ihm weh, ein Körperteil nach dem anderen wird ihm auf Anraten seines Arztes abgehackt, bis ihm zum Schluss, weil er so „komische Gedanken“ hat, der Kopf aufgesägt und amputiert wird. Walz kündigt St. Just an, den Scharfmacher und Henkersknecht. Schon die Auftritte von Stefan Walz waren großartig choreografiert, aber jetzt schlägt die Stunde des herausragenden Wuppertaler Choreografen Pascal Merighi.
Aus dem Dunklen schält sich Thomas Braus. Im schwarzen Umhang mit Hut sieht er aus wie ein Henker der Inquisition. In jeder Hand trägt er eine Schüssel. Kurzzeitig erinnern sie an die Schalen der Waage der Gerechtigkeit, aber es sind wohl eher die Schüsseln, die das Blut der Toten auffangen. Scheinbar unter Schmerzen schält sich Braus aus seinen Klamotten heraus und übergießt seinen sehnigen Körper mit Blut. Lange bleibt sein Auftritt stumm, aber visuell ist dies der intensivste Teil des kurzen Abends. Merighi hat großartige, schauderhafte Bilder choreografiert - „Willst du noch länger zaudern? Wir werden ohne dich handeln“, lesen wir als Schrift auf der Videowand. Langsam setzt wieder Musik ein. Ihre Harmonie steht im Kontrast zu den abgehackten, hektischen Bewegungen der Gliedmaßen, die über die Fernsehschirme flimmern. St. Just blickt zurück: Veränderungen der Natur seien fast unbemerkt an uns vorüber gegangen, aber es lägen „Leichen auf ihrem Weg“. Und Veränderungen, so weiß er, haben stets Opfer gekostet. Er zählt sie auf, die Opfer der Kriege, der Hungersnöte, der Völkermorde, der Terroranschläge. Es sind erschreckende Zahlenkolonnen, doch: „Es ist normal, dass in einer Welt, in der der Lauf der Zeit schneller wird, auch mehr Menschen außer Atem kommen.“ Braus-St. Just blickt uns an, ohne Erbarmen: „Sie müssen weg. Alle!“ Was sind schon knapp 8 Milliarden Tote gegen die Rettung der Erde?
Stefan Walz, der Conférencier, flieht. Und macht das Licht aus. - Selten zuvor hat man einen so klar strukturierten, überzeugenden Appell für das Handeln im Kampf gegen den Klimawandel gehört. Selten zuvor hat man aber auch so klar verstanden, dass die bevorstehenden Veränderungen radikalen politischen Positionen Vorschub leisten können. Man ist ratlos: Keiner der drei Positionen möchte man sich anschließen, nicht der von Robespierre, nicht der von Danton und natürlich überhaupt nicht der von St. Just. Aber die wird es werden, wenn wir nicht bald etwas tun.