Inszenierung und Diskussion
J. M. Coetzee, südafrikanischer Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger, beschreibt in seinem Roman Schande (Disgrace) (1999), wie der weiße Literaturprofessor David Lurie, Fachmann für Kommunikationswissenschaften und englische Romantik an der Universität in Kapstadt, alleinstehend und vom Leben gelangweilt, sich auf eine Affäre mit einer Studentin, Melanie Isaacs, einlässt, bei der es zu nicht einvernehmlichem Sex kommt. Melanie zeigt ihn an und Lurie muss vor einem internen Untersuchungsausschuss Stellung beziehen. Da er zwar seine Schuld eingesteht, aber keinerlei Reue zeigt, wird er aus dem Universitätsdienst entlassen. Er sucht Zuflucht bei seiner Tochter Lucy auf dem Lande, die, ganz auf sich allein gestellt, eine Farm bewirtschaftet und eine Hundepension betreibt. Lurie schreibt hier eine Oper über Byron. Er arbeitet aber auch in einer Tierklinik, wo es eine Aufgabe ist, die Tierkadaver zu entsorgen. Luries Lebenssituation als älterer, weißer, heterosexueller, bisher privilegierter Mann hätte sich nicht mehr ändern können als durch den Umzug aufs Land. Lucys Farm ist umgeben von aufstrebenden schwarzen Männern der postkolonialen südafrikanischen Gesellschaft. Ihr Mitarbeiter Petrus hat Land gekauft und so einen wirtschaftlichen Aufstieg erreicht. Eines Tages überfallen drei schwarze Männer die Farm, verletzen David und vergewaltigen Lucy. Sie entscheidet jedoch, die Vergewaltigung nicht anzuzeigen. Was David absolut nicht versteht. Einer der Täter, Pollux, gehört zu Petrus‘ Familie.
Lurie kehrt nach Kapstadt zurück und bittet Melanies Eltern um Verzeihung. Zurück auf der Farm erfährt er, dass Lucy schwanger ist und dass sie beschlossen hat, Petrus zu heiraten, damit das Kind unter seinem Schutz steht.
Oliver Frljic stammt aus Kroatien, wo er als Autor, Regisseur und Schauspieler lebt und arbeitet. Seit der Spielzeit 2019/2020 ist er Hausregisseur am Maxim Gorki Theater in Berlin. Mit Schande inszeniert er erstmals am Bochumer Schauspielhaus. Er setzt auf die Macht von Bildern. So sehen wir zu Beginn die Projektion eines Denkmals mit einer Statue, dessen Sockel mit „Schande“-Schmierereien mehrfach verunziert ist. Ein weiteres Bild ist das Spiel mit unzähligen (Hunde-)Käfigen. Mal werden sie zu einer Mauer gestapelt, dann bedecken sie die ganze Bühne, dann wieder stecken Menschen in ihnen. Durchaus ein sehr gut gewähltes Bild, was gut zum Inhalt der Textvorlage passt. Man hört zum Beginn und zum Ende James Baldwin, einen der bedeutendsten US-amerikanischen schwarzen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der in seinen Arbeiten oft Themen wie Rassismus oder Sexualität behandelte. Sätze wie „I am the door you have to go through if you want to live“ klingen bedeutsam. Aber wo ist der Bezug zur Inszenierung?
Vier Akteure gestalten den Abend. Drei Schauspieler des Bochumer Ensembles: Dominik Dos-Reis, Marius Huth und Victor IJdens. Sie spielen alle verschiedene Facetten von David Lurie wie u.a. den besorgten Vater oder den arroganten Professor. Amina Eisner - sie spielt die Studentin, Lucy und Petrus - ergänzt das Ensemble. Sie merkt in einer der Phasen, die zwischen den gespielten Szenen liegen, an, sie sei als farbige Frau nur aus Gründen der „Political Correctness“ für diese Produktion engagiert worden.
Schon zu Beginn wird das Publikum informiert, dass die Mitwirkenden während der Proben heftige Diskussionen geführt haben. So über die Besetzung (nur vier von zunächst sieben Schauspielern seien geblieben) und über Probleme mit der Buchvorlage, der Schilderung der Geschehnisse aus der Sicht eines weißen Autors. Nach einigen wenigen Szenen wird wieder unterbrochen und das überwiegend weiße Publikum gefragt, ob es sich für weiße Unterdrückung verantwortlich fühlt. Die Zuschauer reagieren zögerlich. Es sei schwer, eine Beziehung zwischen dem Buch und der Situation hier zu finden, so eine Stimme. Ein Zuschauer meint, sie sollten lieber spielen als zu diskutieren. Dafür würden sie schließlich bezahlt. Eine farbige Zuschauerin beklagt, hinter der Bühne sei auch nicht alles problemlos. Einige Zuschauer sind verärgert über dieses Intermezzo.
Die Bühne als Ort, wichtige Themen zur Diskussion zu stellen? Ja. Aber an diesem Abend hat man den Eindruck, die Inszenierung des Coetzee-Textes steht fast an zweiter Stelle - warum wählte man dann diesen Stoff? - und wird zum Teil überlagert durch allgemeine Diskussionen zum Thema Rassismus und manche Belehrung des Publikums. So zum Thema „Blackfacing“. Wobei auf die Titelseite der deutschen Ausgabe von „Schande“ Bezug genommen wird. Der zweite wesentliche Aspekt des Buches, das Thema Vergewaltigung einer Frau mit sowohl schwarzen wie weißen Tätern, wird zwar vorgestellt, aber nicht weiter problematisiert.
Ein Abend mit interessanten Aspekten, aber als Gesamtkonzept nicht überzeugend. Leider auch nicht, was die schauspielerische Leistung des bemühten Ensembles betrifft.
„10 x Freiheit“ - unter diesem Motto fanden am Wochenende des 30./31. Oktober 2021 zehn Premieren an zehn verschiedenen Ruhrbühnen statt. Mit einem individuell zusammenstellbaren Vierer-Ticket konnten Besucher gleich am Premieren-Wochenende vier der zehn Aufführungen besuchen. theater:pur stellt fünf von ihnen vor:
Schauspielhaus Bochum: nach J. M. Coetzee, „Schande“
Schauspiel Dortmund: Annie Ernaux, „Der Platz“
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Schlosstheater Moers: nach Friedrich Schiller, „Die Polizey“
Ringlokschuppen Mülheim: CocoonDance, „Standard“
Theater an der Ruhr Mülheim: nach Lars von Trier und Charlotte Beradt, „Europa oder Die Träume des Dritten Reichs“