Weggegangen, Platz vergangen?
Wie fest ist der Platz eines Menschen in der Gesellschaft zementiert? Warum fehlt der Arbeiterschicht so häufig der Mut zum Self-Empowerment, zum Aufbegehren? Wie hoch sind die sozialen und emotionalen Kosten, aus der Welt knapp über der Armutsgrenze in die Welt des Bürgertums aufzusteigen? Ist die Distanz des Aufsteigers zur im Arbeiter-Milieu verbliebenen Familie Verrat? Gibt es unsichtbare Mauern, die die Freiheit der nicht aus dem Bürgertum stammenden Menschen begrenzen? Wenn es diese Barrieren gibt, sind sie selbst errichtet oder von der Gesellschaft vorgegeben? – All diese Fragen sind in Der Platz Annie Ernaux‘ „autobiografischem Bericht“ über ihren Vater, offen oder implizit enthalten.
Annie Ernaux ist eine frühe Vertreterin der französischen autobiografisch-soziologischen Literatur, deren Vertreter in den letzten Jahren auch in Deutschland sehr en vogue sind: Édouard Louis‘ Essay „Wer hat meinen Vater umgebracht“ aus dem Jahre 2018 (in deutscher Übersetzung 2019 erschienen) wird an deutschen Theatern gerade rauf und runter gespielt und erinnert in seiner Struktur und seinen Inhalten an den Roman von Ernaux. Der stammt von 1983. Viel scheint sich seither im Hinblick auf die vertikale Durchlässigkeit der Gesellschaftsschichten nicht getan zu haben, und wenn doch, so sind neue prekäre Schichten nachgewachsen, deren Ringen um einen angemessenen Platz eine noch größere Herausforderung darstellt: Man denke nur an die Flüchtlinge und Migranten aus außereuropäischen Ländern.
Ernaux‘ Ich-Erzählerin aber hat den Aufstieg geschafft. Sie hat das Examen zur Grundschullehrerin bestanden und sieht sich damit im Bürgertum angekommen. Nur zwei Monate zuvor ist ihr Vater verstorben - ein einfacher Mann, fern der Mittelschicht oder gar der Elite. Zwischen dem Vater und der der Familie intellektuell und gesellschaftlich entwachsenen Tochter war eine Distanz entstanden. Nun, aus Anlass ihres bestandenen Examens, blickt die Tochter zurück, und oft scheint es, als sei das Drama um den „Platz“ in der Gesellschaft weniger seines als ihres. Ihr Vater, so heißt es einmal, habe seinen Platz gefunden - „in der Armut, oder knapp darüber“ – und er scheint sich bei allem Unterlegenheitsgefühl damit eingerichtet zu haben. Die Erzählerin selbst dagegen hadert: Sie ist zerrissen zwischen der Welt des Bürgertums und der der Arbeiterschicht, der sie entstammt: weggegangen, Platz vergangen – und neuer Platz noch nicht gefunden. Sie kommt nicht an in der neuen sozialen Umgebung, deren Lob, Kritik und Ratschläge sie als „Ritual“ einer elitären Bürgerschicht empfindet, deren Höflichkeit auch Kindern gegenüber sie als oberflächlich entlarvt und zum Ausdruck „einer Welt, die einen die Herkunft aus einfachen Verhältnissen vergessen machen will, als wäre sie ein Ausdruck schlechten Geschmacks“ erklärt. Gleichzeitig empfindet sie Scham im Hinblick auf die Distanz zum Vater, die auch eine Distanz zur eigenen Herkunft ist. Ist diese Distanz Verrat? Wohl kaum, werden Leser des Buchs und Besucher von Julia Wisserts Inszenierung am Schauspiel Dortmund entscheiden, denn der Text von Annie Ernaux ist auch eine große Hommage an den Vater. Von Liebe allerdings ist wenig zu spüren. Vaters grenzenlose Bescheidenheit hat die Erzählerin ratlos (und manchmal auch verständnislos) zurückgelassen.
Ernaux sieht eine Notwendigkeit zum Klassenkampf und sie sieht einen Vater, der nicht kämpft. Besser sagen wir: Vater kämpft auf seine Weise, eher leise, wenn auch mit Groll gegen „die da oben“, gegen eine Politik zum Beispiel, die den Untergang der niederen Klassen wolle (und diesen wohl nur den Aufstieg und die Verschmelzung mit der Mittelschicht ermöglichen will). Vater ist selbst ein Aufsteiger; er ist auf der gesellschaftlichen Leiter emporgeklettert vom Erntehelfer zum Fabrikarbeiter zum Ladenbesitzer zum Inhaber einer kleinen Kneipe. „Der Tüchtige verschwendet keine Minute“, sei die „Botschaft für die Kinder der Armen“, heißt es bei Ernaux, die mit Bitterkeit vermerkt, im Leben vorangekommen seien sie alle nicht. Nüchtern betrachtet, ist der Vater dank seines Fleißes und dank seines Ehrgeizes durchaus vorangekommen. Möglicherweise hätte sein Potential ihn noch schneller höher weiter getragen. Und da stoßen wir auf die vielleicht entscheidende Frage in dem Text der Autorin: Wodurch wird die Freiheit eines Menschen begrenzt, wenn er nicht aus dem Bürgertum kommt? Denn dass der Vater unfrei war in seinem Denken und Handeln gegenüber der als überlegen empfundenen bürgerlichen Gesellschaft, wird in vielen Episoden der Geschichte deutlich.
Vater war stolz auf seine Herkunft. Er war stolz auf seine Leistung, seinen Aufstieg: Er wollte als Ladenbesitzer gesehen werden, nicht als Arbeiter. So hat er seinen bescheidenen Platz gefunden, und Bescheidenheit ist es tatsächlich, die ihn auszeichnet. Aber Vater steckte auch voller Minderwertigkeitskomplexe. Die Erzählerin reflektiert seinen Hang zur Anpassung und zur Unterwerfung, seine Angst, fehl am Platz zu sein, seine Scham ob seines normannischen Dialekts. Hatte er wirklich seinen Platz gefunden? Es heißt auch: „Er gehörte nirgendwo dazu.“ Das Etepetete-Gehabe des Bürgertums macht Ernaux mitverantwortlich für die Klassenschranken, in denen Vater gefangen war. Es sind anerzogene, mit der Muttermilch eingesogene Verhaltensweisen, die – siehe die Höflichkeit gegenüber Kindern – nichts Schlechtes bedeuten, mögen sie auch noch so oberflächlich sein. Ernaux war 1983 ihrer Zeit voraus: Die Forschung kümmert sich erst heute um die Frage, inwieweit die Herkunft aus einer bestimmten Gesellschaftsschicht und das daraus resultierende Denken automatisch zu einer Diskriminierung führt.
Der Text von Annie Ernaux wirkt – bei aller inhärenten Kritik an den Verhältnissen und trotz der Inhalte, die durchaus aufwühlen könnten – sachlich und nüchtern. Weniger aggressiv als die zeitgenössischen Texte zum gleichen Thema, vermittelt er mehr Traurigkeit als Wut ob der herrschenden Klassenverhältnisse. Für eine Theaterfassung drängt er sich nicht unbedingt auf. Julia Wissert verteilt ihn im Schauspiel Dortmund auf vier Schauspielerinnen und zwei Schauspieler, die in signalfarbene Frauenkleider gesteckt sind, und bebildert ihre Inszenierung nur spärlich. Einziges Bühnen-Element ist eine kleine blaue Ein-Raum-Hütte, in der man flüchtig Spaten und Mistgabel, die Werkzeuge des einstigen Landarbeiters, erspähen kann. Die Schauspielerinnen und Schauspieler treten meist als Kollektiv auf, sprechen aber konsekutiv, ohne dass man einzelnen von ihnen bestimmte Charaktereigenschaften, Themen oder Emotionen zuteilen könnte. So recht gelingt es nicht, die Spannung im Publikum über neunzig Minuten zu halten oder Empathie für die Ich-Erzählerin oder ihren Vater zu wecken.
Das Konzept der Inszenierung ist dennoch interessant: Sie will nicht in erster Linie mit Worten, sondern mit den von Belendjwa Peter choreografierten Bewegungen des Schauspiel-Kollektivs zu uns sprechen: Verkrampftes Tänzeln auf der Stelle, wringende Handbewegungen versinnbildlichen den gesellschaftlichen Stillstand und die tiefe Unsicherheit des Vaters. Unterschiedliche Bewegungsformen respektive unterschiedliche Virtuosität weisen bisweilen auf ambivalente Situationen hin. Dann legt zum Beispiel Mervan Ürkmez einen lockeren Diskotanz hin, während Antje Prust gleichzeitig in der unsicheren Haltung einer Spitzentänzerin das Gleichgewicht zu verlieren droht. In solchen Bildern liegt die Stärke der Inszenierung, in der auch die Berliner Musikerin houaïda mit faszinierenden Sounds und Songs brillieren kann.
„10 x Freiheit“ – unter diesem Motto fanden am Wochenende des 30./31. Oktober 2021 zehn Premieren an zehn verschiedenen Ruhrbühnen statt. Mit einem individuell zusammenstellbaren Vierer-Ticket konnten Besucher gleich am Premieren-Wochenende vier der zehn Aufführungen besuchen. theater:pur stellt fünf von ihnen vor:
Schauspielhaus Bochum: nach J. M. Coetzee, „Schande“
Schlosstheater Moers: nach Friedrich Schiller, Die Polizey“
Ringlokschuppen Mülheim: CocoonDance, „Standard“
Theater an der Ruhr Mülheim: nach Lars von Trier und Charlotte Beradt, „Europa oder Die Träume des Dritten Reichs“