Übrigens …

Woyzeck@whiteboxx im Neuss, Rheinisches Landestheater

Ein Fall für die Forensik

Das Rheinische Landestheater hat in seiner kleinsten Spielstätte, im Studio, eine wundersame Reihe etabliert, in der die großen Stücke des Dramen-Kanons in kleiner Besetzung und weitgehend ohne Requisiten und Bühnenbild nacherzählt werden. Gespielt wird in einem Einheitsbühnenbild, einem White Cube, der nichts anderes ist als ein an einen maroden Gartenzaun oder ein Gartenhäuschen erinnernder Bretterverschlag. Aber es ist verdammt solide Kunst, die das RLT dort auf die Bühne bringt: intelligent, fokussiert, unterhaltsam - und immer nah beim Autor. Faust mutierte vor zwei Jahren zu einem höchst vergnüglichen Krimi, der aus jeder Szene von Goethes Mammutwerk angeblich mindestens einen Satz zitierte und dennoch nur 100 Minuten dauerte; den Nathan gab es pandemiebedingt erst einmal nur als Stream. Jetzt versucht sich die Regisseurin Katharina Kummer in Woyzeck@WhiteBoxX an Georg Büchners Dramen-Fragment, das auch ein großes Psycho- und Sozial-Drama ist. Dabei werde sie, so hatte sie angekündigt, auch die ausgeprägte Emotionalität des Autors zum Klingen bringen.

Büchner, der nur 23 Jahre alt wurde, hat nicht nur drei Dramen, eine Novelle und den Hessischen Landboten geschrieben, sondern auch noch eine Dissertation. In seiner wissenschaftlichen Arbeit widmete er sich der Hirnforschung, und auch wenn es in seiner Doktorarbeit vordergründig um das Nervensystem eines Fisches ging, versuchte er vor allem, seine Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen. Der Wissenschaftsforscher Michael Hagner bemerkte einst in der Neuen Zürcher Zeitung, anders als in Büchners anatomischen Schriften erscheine das menschliche Gehirn in seinen Dichtungen „als Schlachtfeld, auf dem sich Brutalität und Bestialität austoben“.

In Neuss gibt Niklas Maienschein den Woyzeck von Beginn an als eine verängstigte, psychisch kranke, vermutlich zutiefst traumatisierte Persönlichkeit: „Er schnappt noch über mit den Gedanken“, sagt Marie (sagt Niklas Maienschein, denn in Neuss stehen zwar auch Nelly Politt und Johannes Bauer auf der Bühne, doch sie agieren weitgehend stumm). „Du bist hirnwütig, Franz“, heißt es an anderer Stelle, und Woyzeck selbst bekennt, er sei „schwermütig; ich muss immer weinen, wenn ich meinen Rock an der Wand hängen sehe“. Klarer Fall von Depression - oder schlimmer. Das „Schwärmerische“, das zusätzlich im Originaltext steht, hat Katharina Kummer gestrichen; dafür aber kühlt Marie, als die die stumme Nelly Politt meist auftritt, Woyzeck wiederholt die fiebrige Stirn: Dieser Woyzeck ist ein Fall für den Doktor, aber nicht für den mit den Erbsen-Experimenten, sondern für den Neurologen und Psychiater. In seinem Alptraum - und in einer der intensivsten Szenen des kurzen Abends - bricht ein echsenartiges Ungeheuer in Woyzecks weißen Kubus ein, blutbeschmiert am ganzen Körper. Nein, eine „Kreatur wie Gott sie gemacht hat“, wie sie der Marktschreier in Büchners Original in einer Art Freakshow anpreist, ist das nicht. Diese Kreatur hat der Teufel gemacht, der böse Geist, der in Woyzecks Hirn steckt.

Ob auch das Techtelmechtel von Marie mit dem Tambourmajor nur eine von Woyzecks Halluzinationen ist? Bei einer solchen Woyzeck-Figur beschleicht einen dieses Gefühl durchaus. Zumal Marie ihre Fröhlichkeit nicht versteckt, als sie singend mit dem Major über die Straße läuft: „Gar lustig ist die Jägerei…“. Das Leben mit Franz ist nicht lustig für sie: Stumm kommt Nelly Politt immer mal wieder in den Raum und schaut nach dem Rechten, bringt Wasser in einer Schüssel, kühlt Franzens Stirn oder geht nach einem kurzen Blick einfach genervt wieder ab. „Immerzu, immerzu“ - den hirnwütigen Aufruf des Franz Woyzeck hat man aus anderen Aufführungen im Ohr, aber hier scheint er der Phantasie Woyzecks zu entspringen, der ihn als Anfeuerungsruf Maries beim Geschlechtsverkehr mit dem Tambourmajor imaginiert. Ja, und vielleicht sind ja auch die vielen Selbstgespräche, die Niklas Maienschein mit all den anderen Figuren aus Büchners Drama führen muss, nur Ausdruck von Woyzecks heiß gelaufener Phantasie, Ausdruck der Schizophrenie eines einfachen Soldaten, der den Schikanen durch seine Vorgesetzten nicht gewachsen war.

Identitätsprobleme deutet die Aufführung auch in anderer Hinsicht an. Wiederholt wirft sich Maienscheins Woyzeck in Positur: „Ich bin ein Mann“. Aber das verbale und vielleicht auch physische Gefecht mit dem Tambourmajor verliert er; Letzterer guckt arrogant auf ihn herab (Sie erinnern sich: Maienschein als einziger echter Akteur muss da auf sich selbst herabgucken, und es ist erstaunlich, wie ihm das gelingt!). Maienschein spielt aber auch Marie spielt einen Narren spielt den Hauptmann, dem Politt nun als Woyzeck die Haare schneidet. Und Maienschein/Woyzeck wird immer mehr zur geschlechtlich nicht mehr eindeutig identifizierbaren Figur: Er schminkt sich seine Lippen rot, trägt schwarze Lackschuhe mit Applikationen und wechselt in ein feminin anmutendes, jeder Soldatenehre hohnsprechendes Hemd.

Nelly Politt darf am Ende doch noch ein paar Sätze sagen. Sie erzählt das merkwürdige tieftraurige, existenzialistische Märchen der Großmutter, das Märchen von dem Kind, das keine Eltern mehr hat und Zuflucht beim Mond, bei der Sonne und bei den Sternen sucht, aber erkennen muss, dass diese nur ein Stück Holz respektive eine vertrocknete Sonnenblume respektive brennende Mücken sind - und als es zur Erde zurückkommt, ist auch die Erde nur noch ein umgestürzter Hafen. So bleibt das Kind einsam und wohl auch hilflos zurück. In Kummers Inszenierung wäre das ein schöner Schluss gewesen, der der Situation des kranken, einsamen, auf andere Art als bei Büchner hirnwütigen Mannes gerecht geworden wäre. Aber Marie muss ja noch sterben, Woyzeck noch zum Mörder werden. Das zieht sich noch ein bisschen. Und zugegebenermaßen passt ja auch dieser Mord perfekt zur Interpretation des Rheinischen Landestheaters. „Wenn Woyzeck mordet, dann ist es, als habe nicht sein Opfer, sondern er selbst diesen Mord zu erleiden, … denn er tötet Marie, das Kostbarste, das einzige, das er auf dieser Erde hat“, beschreibt der Theater- und Literaturkritiker Georg Hensel diese Szene. Oder, wie Katharina Kummer es ausdrückt: „Alle Stimmen kommen aus Woyzeck; er ist Mörder, Opfer oder Richter in einem.“ Hirnwütig. Schizophren. Psychisch krank. Der Schreiber dieser Zeilen, derzeit auch Schöffe am Landgericht, würde sagen: Schuldunfähig. Ein Fall für die forensische Psychiatrie.