Wagalaweia, rollen die Räder
Wagalaweia, rollen die Räder. Der Satz stammt aus Wolfgang Koeppens Nachkriegs-Roman Das Treibhaus, und er fällt, als dessen Protagonist Franz Keetenheuve, ein während des Dritten Reichs ins englische Exil gegangener SPD-Bundestagsabgeordneter, mit dem „Nibelungenexpress“ zu einer Parlamentssitzung nach Bonn fährt. Wagalaweia, hört er die Räder rattern – im Rhythmus des von den Nazis favorisierten Komponisten und Antisemiten Richard Wagner. - In Lars von Triers Film Europa sitzt (oder besser: steht) Leopold Kessler im Zug, ein idealistischer, etwas naiver junger Amerikaner, der unmittelbar nach dem Krieg nach Deutschland reist, um als Schlafwagenschaffner bei der „Zentropa“ zu arbeiten und beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Wagalaweia, rollen die Räder: Der Zug fährt durch das zerstörte Deutschland, und bald sieht sich Leo von lauter Nazis umzingelt, die ihn für ihre sinisteren Zwecke instrumentalisieren. „Du bist durch die deutsche Nacht gereist“, konstatiert Leos spätere Frau Kat.
Kat, bei Dagmar Geppert in Mülheim eine undurchsichtige, geheimnisvolle und gerade darum faszinierende Figur, wird sich spät als Mitglied der Werwölfe zu erkennen geben, einer terroristischen Vereinigung alter Nazis, die den Untergang des Dritten Reichs nicht akzeptieren. Widerwillig hat Leos ebenfalls bei Zentropa beschäftigter Onkel die Bewerbung des Amerikaners Leo vermittelt - Klaus Herzog spielt den Onkel brillant als einen verkanteten, starrsinnigen, offenbar auch traumatisierten Nazi, der die Abhängigkeit Deutschlands von den Amerikanern als Demütigung empfindet. Doch Leo steigt schnell auf zum Schwiegersohn des Chefs: Kat ist die Tochter von Max Hartmann, dem Geschäftsführer von Zentropa, der wiederum im Entnazifizierungsverfahren das Blaue vom Himmel gelogen hat und dessen Falschaussage durch einen von dem amerikanischen Colonel Harris erpressten amerikanischen Juden beglaubigt wird. Die Scham über die Unterstützung durch einen Juden, aber auch über seine eigene Kollaboration mit den Amerikanern treibt Hartmann, der sich nie von der Nazi-Ideologie gelöst hat, in den Suizid. Harris wirbt Leo als Spitzel an, und der verheddert sich heillos in den Intrigen der alten Nazis einerseits und des US-amerikanischen Geheimdienstes andererseits. Er wird am Ende schuldig: Er erkennt zwar seine Instrumentalisierung, erfüllt aber gerade darum den Auftrag der Werwölfe, einen Zug explodieren zu lassen. Und ist wenige Tage später selbst tot…
Verwirrend? Ja, geht aber noch: In seiner Inszenierung Europa oder Die Träume des Dritten Reichs verzahnt Philipp Preuss am Theater an der Ruhr die Handlung von Europa mit der eines zweiten Films aus von Triers „Europa“-Trilogie sowie mit Charlotte Beradts Traumdokumentation Das Dritte Reich der Träume, einer Sammlung von politischen Träumen realer Menschen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Wenn es einen nachvollziehbaren Handlungsstrang in der Inszenierung gibt, dann wird er von den Geschehnissen aus Lars von Triers „Europa“ gebildet. „Epidemic“, der zweite Film, ist noch verwirrender als „Europa“: In parallelen Handlungssträngen schließt er das Scheitern zweier Drehbuchautoren mit Berichten über die mittelalterliche Pest und den durch einen Behandlungsfehler ausgelösten Ausbruch einer neuen Epidemie kurz. Die Alpträume der Zeitgenossen des Nationalsozialismus sowie die Motive der beiden Filme werden parallel erzählt. Albert Bork spielt in Mülheim sowohl den Schlafwagenschaffner als auch den Arzt aus „Epidemic“, der helfen will und doch die neue Epidemie auslöst. Konsequenterweise heißt Bork auch als Schlafwagenschaffner wie der Arzt: nicht Kessler, sondern Mesmer. Die beiden Drehbuchautoren aus „Epidemic“, Lars und Niels (nachempfunden Lars von Trier und Niels Vørsel und in Mülheim dargestellt von Fabio Menéndez und Alexander Gier), stehen im Tennisdress rechts und links eines durch sieben hintereinander platzierte Tore angedeuteten Eisenbahnabteils und kommentieren und diskutieren Ideen. Am Ende des Abteils erscheint schon zu Beginn der Aufführung Petra von der Beek als eine Kassandra mit blutunterlaufenen Augen, die Bilder von einer Epidemie beschwört – von der mittelalterlichen Pest in Siena. Ein Virus hat die Welt befallen: das klingt aktuell und ist auch so gemeint, aber anders als man denkt.
Preuss verzahnt beide Filme über das Motiv der Hypnose, das sowohl in „Europa“ als auch in „Epidemic“ eine entscheidende Rolle spielt und die Figuren in ähnliche Träume und Alpträume versetzt wie die von Charlotte Beradt befragten Personen. Nicht der Gang der Handlung steht für den Regisseur im Vordergrund, sondern das Gespenst des Nationalismus. Seine Inszenierung werde zu einer "theatralen Hypnose" und einer "alptraumhaften Befragung unserer Gegenwart", hatte Philipp Preuss im Vorfeld versprochen. Wer die Filme von Triers nicht kennt, dürfte jedoch von dem ambitionierten, gedankenschweren Theaterprojekt heillos überfordert sein. Wem es gelingt, die Motive aus den drei Vorlagen zu sortieren oder sich durch die suggestiven Szenen in Hypnose versetzen zu lassen, der mag beeindruckt sein. Immer mal wieder glaubt man Bezüge zwischen den von Charlotte Beradt dokumentierten Träumen und einzelnen Episoden aus den beiden Filmen zu finden: Wenn der Unternehmer nach Hitlers Machtergreifung von einem Besuch Goebbels‘ in seiner Fabrik träumt, bei dem er eine halbe Stunde benötigt, um unter großen Anstrengungen seinen Arm zum Hitler-Gruß zu erheben, und anschließend schnöde von dem Propagandaminister abgewiesen wird, er wünsche seinen Gruß nicht, erinnert das an die Scham von Max Hartmann, der dem Virus des Nationalsozialismus allerdings erlegen ist. Vor allem aber zeigen viele der zitierten Träume, wie Angst und ein heimlicher Wunsch nach Akzeptanz auch bei einer bedrohten Bevölkerungsgruppe eine merkwürdige Symbiose eingehen: Da ist der Traum des (offenbar jüdischen) Augenarztes, er sei der einzige, der Hitler behandeln könne und werde deshalb aus der (ebenfalls geträumten) Gefangenschaft zurückgeholt; da ist der Traum der jüdischen Hausangestellten, die gegen die Vorschriften ins Kino geht, wo ihr Adolf Hitler den Arm um die Schulter legt. Das sind beklemmende Szenen, in denen man spürt, welche Kraft die Attacken des Virus haben können. Doch auch die Erlebnisse von Leo Mesmer erzählt die Aufführung in Form von hypnotischen Alpträumen.
Petra von der Beek ist die Impresaria dieser Alpträume, die Hypnotiseurin. Wie in von Triers „Europa“ zählt von der Beek zu Beginn von zehn bis eins herunter: „Europa“ kann man nur durch Hypnose betreten. Am Ende entlässt sie wieder aus dem hypnotischen Zustand. Dagmar Gepperts Kat war es, die zwischenzeitlich diagnostiziert hatte: „Du willst aufwachen, um dich vom Wahnbild Europas zu befreien.“ Doch das rechtsradikale Virus, so behauptet Preuss, lebt fort: Dagegen gebe es keine Immunisierung. Nun, die Mehrheit scheint heute immun, AfD hin oder her. Schlimmer scheint, dass die Genesung der Erkrankten so selten gelingt. Wagalaweia, rollen die Räder. Immer noch.
„10 x Freiheit“ – unter diesem Motto fanden am Wochenende des 30./31. Oktober 2021 zehn Premieren an zehn verschiedenen Ruhrbühnen statt. Mit einem individuell zusammenstellbaren Vierer-Ticket konnten Besucher gleich am Premieren-Wochenende vier der zehn Aufführungen besuchen. theater:pur stellt fünf von ihnen vor:
Schauspielhaus Bochum: nach J. M. Coetzee, „Schande“
Schauspiel Dortmund: Annie Ernaux, „Der Platz“
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Schlosstheater Moers: nach Friedrich Schiller, „Die Polizey“
Ringlokschuppen Mülheim: CocoonDance, „Standard“
Theater an der Ruhr Mülheim: nach Lars von Trier und Charlotte Beradt, „Europa oder Die Träume des Dritten Reichs“