Ein postkolonialistisches Self-Empowerment
„Die Insel ist voll Lärm, voll süßer Lieder“, sagt Caliban in Shakespeares Sturm. Woran liegt es eigentlich, dass wir dabei automatisch (und gegen jede geographische Wahrscheinlichkeit) glauben, es mit einer Insel vor der Küste Afrikas zu tun zu haben? „Ha, kolonialistische Attitüde“, rufen da die Aktivistinnen und Aktivisten der Identitätspolitik, „ha, Rassismus!“ Beides sind in der aktuellen aufgeheizten Diskussion ohnehin beliebte Vorwürfe gegen den Meister aller dramatischen Klassen. Als ob der olle Shakespeare es Anfang des 17. Jahrhunderts bei der Verfassung der mit viel realitätsferner Folklore gespickten dramatischen Romanze besser gewusst haben könnte…
Eines lässt sich allerdings nicht leugnen: Schaut man mit dem humorlos-nüchternen, von allen märchenhaft-romantischen Vorstellungen und aller literaturgeschichtlichen Einordnung befreiten Blick des politisch korrekten Bürgers von heute auf das Stück, könnte es einen bei Shakespeares Sturm schon grausen. Und das nicht erst seit dem 21. Jahrhundert: Der afrokaribisch-französische Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire, einer der Begründer des Konzepts der Négritude, hat das Stück bereits im Jahre 1969 überschrieben und „ein Stück schwarzen Theaters“ daraus gemacht. Césaire, nach eigener Aussage ein Bewunderer Shakespeares, hinterfragt das Original und stellt die Vorgänge des Stückes in simplifizierter Form in den Kontext von Kolonialismus, Machtmissbrauch und kultureller Enteignung. Prospero tritt bei Césaire als machtbewusster Vertreter der Kolonialmacht auf, während der im Vergleich zu Shakespeares Original deutlich intellektueller agierende Caliban der aufbegehrende unterjochte Einheimische und wie Ariel eindeutig als Person of Colour zu identifizieren ist. Caliban sind dabei Züge des radikalen Schwarzen-Führers Malcolm X zugeschrieben; der versöhnlichere Ariel hat den integrativeren Martin Luther King als Vorbild. Der burkinabeische, in Köln lebende Regisseur Poutiaire Lionel Somé blickt am Schauspiel Dortmund nun kritisch auf Shakespeares und Césaires Stürme, dekonstruiert beide und entfacht einen neuen. Das klingt zunächst einmal nach einem interessanten Konzept.
Vogelzwitschern und Urwaldgeräusche empfangen die Besucher beim Einlass ins Parkett. Die Insel ist voll Lärm und süßer Lieder, und sie liegt, dem aus Martinique stammenden Césaire folgend, in der Karibik. Einmal gar ist ein spanischsprachiges Canción zu hören; meist stammt die Musik von dem Theatermusiker und Hiphopper Abdoul Kader Traoré und klingt nach dem typischen Afropop Westafrikas. Valentina Schüler flattert als Luftgeist Ariel im weißen Federkostüm über der schrägen Bühnenscheibe, die zunächst einmal von den Videos einer wunderschönen Palmeninsel übermalt wird. Harmonische bunte Farbenspiele beeindrucken; das Meer schäumt, Stürme werden entfacht – die Technik im Dortmunder Schauspiel läuft wie am Schnürchen. Bühnenbildnerin Marion Schindler und die Video-Künstlerin Daniela Sülwold haben ein illusionistisches Meisterwerk geschaffen, das Fernweh nach der kolonialisierten Traum-Insel weckt. Und dennoch möchte man dort lieber nicht leben. Denn über die Insel herrscht mit Prospero ein tyrannischer Kolonialherr, der nicht nur den indigenen Ureinwohnern Caliban und Ariel ihre Identität raubt, sondern den Marlena Keil auch sonst etwas eindimensional als einen schrillen, unsympathischen Kerl karikiert.
Die unterdrückte Bevölkerung ist jedoch schon angetreten, das Land vom Tyrannen zu befreien. Sarah Yawa Quarshie als Caliban ist ziemlich widerspenstig drauf: Einen „guten Tag voller Wespen, Kröten, Blattern und Kot“ wünscht sie ihrem Unterdrücker zur Begrüßung. Das passt durchaus auch zu Shakespeares ungehorsamem Teufelchen – anders als die Anrufung der Göttin Yemayá gleich zu Beginn der Aufführung. Yemayá ist praktischerweise sowohl in der afrikanischen Yoruba-Religion als auch in verschiedenen indigenen lateinamerikanischen Religionen die Göttin des Meeres und „Mutter der Fische“. Als Wächterin über Ebbe und Flut hat sie auch Einfluss auf das innere Gleichgewicht der Menschen, und das ist durch den weißen kolonialistischen Übergriff gestört. Quarshie appelliert an Yermayás Selbstverständnis: „Dustehst denjenigen bei, die dein Erbe verstehen. Und lässt diejenigen den Zorn deines Wellenschlages spüren, die mein Erbe nicht sehen.“ Wie die weißen Schiffbrüchigen also, wie Prospero vor allem…
Caliban findet den Mut zur Selbstermächtigung und nimmt den Namen Bamawo an: „Bamawo Ogida Eyede Ezabayo“ – „der, der sie befreit“. Den Booster für ihren Widerstand bekommt sie von ihrer Mutter Sycorax verpasst, die bei Shakespeare eine längst verstorbene, aus Algier verbannte Hexe, in Dortmund aber noch quicklebendig ist. Sie wird durch die Essener Spoken Word Künstlerin Bernice Lysania Ekoula Akouala verkörpert. Sycorax berichtet zunächst in einem Video-Gespräch von dem Unrecht, das ihr angetan wurde, indem sie versklavt, verbannt und als Hexe denunziert wurde; im dritten Akt tritt sie gemeinsam mit Ariel, Miranda und Bamawo dem Herrscher Prospero entgegen, dessen Macht die vier gebrochen haben. Miranda ist neben ihrem Vater Prospero die einzige Weiße des Stücks und wird in der Dortmunder Inszenierung von Nika Miskovic gespielt. Bei Shakespeare ist sie das einzige Weibchen der Insel und kommt nur zum Zwecke der Vermählung mit Ferdinand, dem schiffbrüchigen Sohn des Königs von Neapel, zur Bühnenexistenz. Daraus ergibt sich für Prospero die Möglichkeit, die Insel wieder gen Europa zu verlassen. In Dortmund hat Miranda sich emanzipiert, aber auch weitgehend jeden Liebreiz verloren. Sie schlägt sich auf die Seite der Ureinwohner und täuscht gemeinsam mit Ariel ihr Treffen mit Ferdinand nur vor.
Wenn die 1,74 große Nika Miskovic als Miranda und die nur 1,50 m große Valentina Schüler als Fake-Ferdi eine ironische Liebes-Szene spielen, entbehrt dies nicht eines gewissen Witzes. Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt längst deutlich geworden, dass es sich bei Lionel Somés Inszenierung trotz des wunderbaren illusionistischen Bühnen- und Kostümbildes um reines Konzepttheater handelt. Auf die Arbeit mit den Schauspielerinnen scheint eher wenig Sorgfalt verwandt worden sein. Die wirken häufig unbeholfen und statisch, blicken ins Publikum und sprechen Texte, die sachbuchartig und seelenlos wirken, obwohl sie doch Temperament und Wut haben sollten. Aber ihre Figuren haben sich ihre Identität zurückerobert. Die Dortmunder Textfassung sampelt Positionen von großen Kämpferinnen und Kämpfern gegen Rassismus und Kolonialismus. Sie greift u. a. auf Zitate von Angela Davis, Martin Luther King, Thomas Sankara und James Baldwin zurück; in einer inhaltlich durchaus interessanten, sprachlich und schauspielerisch aber allzu papierenen Diskussion zwischen Ariel und Caliban wird – analog zu Césaire – eine Nähe von Caliban zu dem radikalen Schwarzen-Führer Malcolm X deutlich, während Ariel eher den Thesen des versöhnlichen Martin Luther King folgt.
Neben Caliban/Bamawo ist es Sycorax, die alte Shakespeare-Hexe, die die Angelegenheit ein wenig mystisch überhöht: Nicht Blut, sondern Licht fließe in ihren und Bamawos Adern: „Glänzen liegt in unserer Natur. Ich bin stolz und stark wie ein Löwe“, weiß Bamawo nun. So entfachen alle gemeinsam am Ende erneut einen Sturm. Auch die Wolkenkratzer, die Prunkpaläste und die ehrwürdigen Tempel, alle diese Zeichen westlicher Kultur werden sich aufgelöst haben, träumen sie. Sie stehen gemeinsam an der Rampe und rufen uns selbstbewusst zu: "Wir sind auf dem Weg!“ – Die Insel ist voll Lärm…