Wilde Krähe Traurigkeit
Ist das ein Pool? Oder ist das nicht vielmehr für die Familie, in der dieses Stück spielt, das Sinnbild eines Weltuntergangs? Des Untergangs eines Traums? Des Familienverbands gar? Die Bühne im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses ist geflutet. Ein Baum, nein: eher die Skulptur eines Baumes ragt in den Pool hinein. Kahler Stamm, kahle Äste: Der Baum ist umgestürzt und entwurzelt. Wo jetzt kein Blatt ist, da wächst keines mehr. Und was ist das für ein Unglücksvogel, der schon beim Einlass des Publikums am Bühnenrand sitzt und die Zuschauer mit skeptischem, manchmal auch herablassendem Blick mustert und zu verunsichern versucht? Ein merkwürdiges Lebewesen ist dieses Ding mit Federn. Doch auch die merkwürdigsten Figuren können Hoffnung geben.
Kilian Ponert gibt diesen gefiederten Gesellen. Er ist kostümiert wie eine Figur aus einem splatterhaften Horrorfilm. „Ich finde Menschen langweilig, außer wenn sie trauern“, konstatiert er. Rotzig ist er, rücksichtslos, konfrontativ. Er nistet sich ein bei Dad und seinen Jungs, in der Familie des Literaturwissenschaftlers, die wie eine Männer-WG wirkt, in der irgendwie die Kommunikation gestört ist. Er quält sie mit seinem schlechten Benehmen, vor allem mit seinen respektlosen Bemerkungen. Was der Vogel Dad klarmacht, klingt wie eine Drohung: „Ich gehe erst wieder, wenn du mich nicht mehr brauchst.“ Dad und seine Jungs erfüllen die Bedingung, unter der Menschen für das Federvieh nicht langweilig sind: Sie trauern. Mehr schlecht als recht kommen sie über den Tod der Mutter und Ehefrau hinweg. Thiemo Schwarz als Witwer äußert seine Trauer offensiv und reflektiert und spiegelt sie in seinen literaturwissenschaftlichen Forschungen; Nils David Bannert und Jacob Zacharias Eckstein als seine Söhne trauern eher still und verhalten. Erst gegen Ende bricht der Schmerz auch aus ihnen heraus. Und das wird befreiend sein.
Die Mutter und Ehefrau ist, wie man eher beiläufig erfährt, bei einem nicht näher bezeichneten Unfall auf nicht näher bezeichnete Weise ums Leben gekommen. Die Details sind nicht wichtig, denn Max Porter hat mit dem schmalen Text Trauer ist das Ding mit Federn keinen Roman über den Tod, sondern einen Text über das Trauern geschrieben. Nicht nur der Vogel, sondern auch dieser Text ist merkwürdig, sogar noch in der Theaterfassung von Laura Linnenbaum und Sonja Szillinsky, die ihm einige seiner Extravaganzen ausgetrieben haben. Manchmal wirkt die Sprache hochgestochen und überambitioniert, manchmal poetisch, manchmal schlicht skurril, und wenn das gefiederte Wesen über die Bühne hüpft, gibt es allerhand lautmalerische Geräusche, die sich in dieser oder anderer Form nicht nur Im Theater, sondern auch im Buch wiederfinden. Bizarr ist das Geschöpf, im Düsseldorfer Schauspielhaus aber auch ausgesprochen charismatisch: Kilian Ponert macht daraus eine Show, ohne aufzutrumpfen; er wird zum alle Register ziehenden, mal tanzenden, mal gurrenden Zentrum der Aufführung und enthält sich doch jeder eitlen Krakeelerei. Man könnte ihm stundenlang zusehen und -hören und sich wundern. Nur Dad wundert sich nicht. Der Literaturwissenschaftler hat den Vogel offenbar längst erkannt: Es ist „Krähe“ aus dem gleichnamigen Gedichtzyklus von Ted Hughes, einem der literarischen Helden des Wissenschaftlers. Dad arbeitet gerade an einem Buch über Hughes mit dem Titel namens „Die Krähe auf der Couch“, als selbige in Gestalt von Ponert in sein entwurzeltes Baumhaus eindringt. Und auch sonst gibt es frappierende Ähnlichkeiten zwischen Hughes und seinem Bewunderer: Hughes war der Ehemann der amerikanischen Lyrikerin und Prosa-Autorin Sylvia Plath, die sich im Alter von 30 Jahren das Leben nahm und ihrem Mann zwei Kinder und eine tiefe Depression hinterließ.
Vielleicht gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen den literarischen Ambitionen von Hughes und Porter. Hughes wollte mit seinen wilden Naturgedichten über einen Vogel von durchaus zweifelhafter Reputation wohl auch dem traditionellen Selbstverständnis der britischen Lyrik entgegentreten, und Porter scheint mit seinem Text einen Gegenentwurf zur traditionellen Trauerliteratur liefern zu wollen. Man ahnt, wie viele Bezüge in Max Porters Text und Laura Linnenbaums Aufführung verborgen sind, die man nicht dechiffrieren kann, wenn man nicht expliziter Kenner von Hughes‘ und Plaths Werk ist. Aber auch wenn die Entschlüsselung der vielen Geheimnisse nicht immer gelingt, wird die Aufführung zum intellektuellen, ästhetischen und schauspielerischen Genuss. Krähe (übrigens nicht nur bei Ponert, sondern auch bei Porter eindeutig ein „Er“) ist nicht nur unbotsam, schmutzig und konfrontativ, sondern er steckt auch voller Witz und Ironie. „Scherz, Symptom, Erfindung, Schrecken, Krücke, Spielzeug, Phantom, Gag, Analytiker, Babysitter“ nennt er sich in Porters Roman (und so ähnlich auch in Linnenbaums Aufführung). Das Weinen am Grab ist nicht seine Sache, Trauerbegleitung heißt bei ihm die Konfrontation mit dem wahren Leben. Was nicht heißt, dass er Trauer nicht zuließe: Krähe triggert auch Erinnerungen (und lässt in diesen Szenen in Düsseldorf auch Thiemo Schwarz den Raum für schauspielerische Glanzmomente). Oft kippt die Aufführung binnen weniger Sekunden von Witz in Lakonie in Verzweiflung. Und so widersprüchlich ist auch Krähe: wild, robust, verrückt und einfühlsam gleichzeitig. So wird das Monster zum Therapeuten. Die wilde Krähe Traurigkeit macht, dass die Familie von ihrer Trauer geheilt wird. Und die furiose, von Ponert und Thiemo Schwarz brillant gespielte Aufführung wird mit ihren permanenten Brüchen zwischen Theorie und Poesie, Überhöhung und Provokation, Einfühlsamkeit und Rotzigkeit zum Ereignis.