Übrigens …

Robin und die Hoods und A Christmas Carol im Forum Freies Theater Düsseldorf und Schauspiel Düsseldorf

Nehmt’s den Reichen, gebt’s den Armen

Es weihnachtet – Zeit für die Familienstücke. Und siehe da: Zwei völlig unterschiedliche Kompanien feiern in Düsseldorf an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mit Familienstücken Premiere und haben jeweils das gleiche Ziel: die Kinder dafür zu sensibilisieren, dass man eventuellen Reichtum mit den Bedürftigen teilen muss. Umverteilung also. Bloß: Wie geht man das an? Und wie bringt man das vordergründig so einfache, de facto aber so komplexe Thema der Zielgruppe ab 6 respektive ab 8 Jahren adäquat näher? Nun, pulk fiktion und das Junge Schauspiel Düsseldorf schauen jeweils ins Mutterland von Adam Smith und John Maynard Keynes und finden ihre Stoffe in der dortigen Literatur. Robin Hood raubte in Nottingham die Reichen und die kirchlichen Würdenträger aus und wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte in der literarischen und sozialpolitischen Rezeption vom Räuber zum Sozialrevolutionär; der raffgierige Kleinunternehmer Ebenezer Scrooge aus London wird bei Charles Dickens mit Hilfe von Nächstenliebe und Weihnachtsgeistern in einen freigiebigen Philanthropen verwandelt. Dickens erzählt ein liebenswertes, moralisches Märchen. Die Sage von Robin Hood hat da mehr revolutionäres Potential.

Verordnete Umverteilung: Ruft pulk fiktion Kinder zur Revolution auf?

Pulk fiktion aus Köln glaubt nicht so recht an Märchen à la Dickens, dafür umso mehr an die Revolution. Vor allem aber wird die Gruppe geschätzt für ihre entspannte und durchaus basisdemokratische Art, merkwürdige Wahrheiten aus althergebrachten und möglicherweise politisch gar nicht mehr korrekten Stoffen zu hinterfragen: Max und Moritz war dafür vor drei Jahren ein besonders brillantes Beispiel, das die Zielgruppe der Kinder ganz ohne erhobenen Zeigefinger mit dem Thema Schadenfreude konfrontierte. Schadenfreude als eine zwar menschliche (insbesondere auch kindgerechte), moralisch aber eher abzulehnende Regung zu betrachten, dürfte allerdings auch allgemeiner Konsens sein. Da ist die Mär vom Räuber und Sozialrevolutionär schon ambivalenter, vor allem wenn man sie aus der autokratischen höfischen Klassengesellschaft des 13. – 18. Jahrhunderts (so lange wurde die Geschichte immer weiterentwickelt!) auf die demokratisch legitimierte soziale Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts übertragen will.

Im KAP1, der nigelnagelneuen Spielstätte des Forums Freies Theater in Düsseldorf, ist der Stil von pulk fiktion sogleich wiederzuerkennen. „Niemand setzt sich hier zur Wehr / deshalb muss ein Hero her / nimmt's den Reichen, gibt's den Armen / Robin Hood heißt er mit Namen", knitteln „Robin und die Hoods“ und rauben einen Schatz. Sogleich beginnt die Hinterfragung: „Rauben? Ist das ein böses Wort? Sind wir Räuber?" Oder stimmt es, dass die Bande nur borgt „von solchen Leuten, die zu viel verdienen“? Kinder und Erwachsene rätseln: Ist „borgen“ ein adäquates Wort, wenn man gar nicht beabsichtigt, das geborgte Gut zurückzugeben? „Zu viel verdienen“ – sind wir da nicht schon bei der unsäglichen Neid-Debatte? – Die Performer lassen keine Zweifel an ihrer Auffassung, dass Umverteilung das Gebot der Stunde ist. Aber was ist fair, was ist gerecht? Ab wann ist Umverteilung Diebstahl? Welche Mittel sind erlaubt, um Umverteilung herbeizuführen? Raub? Mord gar?

Pulk fiktion stellt diese Fragen im bewährten gelassenen Stil der Gruppe. „Robin und die Hoods“ sind eine Band, die zunächst im Zeitraffer einige Motive aus der englischen Sage vorstellt. Sie ironisieren das Pathos der Geschichte mit witzigen Gags und skurrilen pantomimischen Einlagen, mal mehr, mal weniger gelungenen kleinen Choreographien (vor allem die absurde Show, mit der sie sich am Ende den ihnen wieder entwendeten Schatz zurückklauen, ist höchst witzig!) sowie mit bewusst laienhaftem Playback zu vom Band eingespielten akustischen Filmdokumenten. Immer wieder reißen sie die 4. Wand ein, indem sie auf eine unaufdringliche Weise mit den Zuschauern kommunizieren: Wer würde einem Bettler etwas spenden? Und zwei Bettlern? Kann man allen Bettlern was geben? Unlösbare Konflikte tun sich auf, werden aber auf pulk-fiktion-Art nicht per moralischem Zeigefinger aufgelöst, sondern dem Publikum zum Nacharbeiten hinterlassen.

Vor allem aber ist es „Technik-Peter“, der die 4. Wand durchbricht. Denn der will auch mitreden bei der Verteilung des Schatzes, obwohl der arme Peter von den Performerinnen und Performern kurzerhand zum Besitzenden erklärt wird. Kaum jedenfalls ist der Schatz geklaut, geht die Diskussion um dessen gerechte Verteilung los: Ist Gleichverteilung die gerechte Lösung? Kriegt das Publikum auch was mit, obwohl es doch gar nichts geleistet hat? Marouf Alhassan, der Versöhnlichste unter den Performern, der sich immer wieder versichern möchte, dass er auch zu den „Guten“ gehört, glaubt: „Man hat doch nicht nur Recht auf Wohlstand, wenn man etwas geleistet hat:“ Anderer Ansatz: Bekommt mehr, wer im Sherwood Forest mehr gekämpft hat? Oder wer die Idee zur Performance hatte? Intuitiv werden viele der Kinder verstehen, dass hier physische Arbeitskraft gegen intellektuelle Leistungsfähigkeit aufgewogen wird – gehört das Land den Arbeitern und Bauern oder der intellektuellen Elite? Ach ja, überhaupt: Sind nicht alle Gymnasiasten sowieso doof?

Womit sich die nächsten Fragen stellen, wenn man die bewusst niederschwellig gewählte Darstellungsweise von pulk fiktion erst einmal im Unterricht oder im Gespräch mit Eltern und Lehrern aufbohrt: Wie leicht kann man eigenen Vorurteilen auf den Leim gehen? Wie schnell wird die verabredete Solidarität brüchig? Und, ganz wichtig: Wer ist Nutznießer von mangelnder Solidarität? Denn da ist ja Technik-Peter, hier der Besitzende, der den aufkeimenden Konflikt zwischen den Arbeitern … ähh … Räubern zu nutzen versteht. Der sammelt nämlich die teilweise schon ans Publikum verteilten Goldmünzen wieder ein – mit erpresserischen Methoden: „Sonst geht die Show nicht weiter.“ (Tatsächlich hat der Schreiber dieser Zeilen eine exakt gleiche Situation schon einmal live erlebt: Da waren’s allerdings die gewerkschaftlich organisierten Bühnenarbeiter und Techniker, die dem Publikum und dem „besitzenden“ Veranstalter einen Strick drehten und für den Abbruch einer Veranstaltung sorgten.) Ganz nebenbei und nur mit einem Satz werden auch die vorab entstandenen Materialkosten ins Feld geführt, die vor der Verteilung der Einnahmen erst einmal kompensiert werden müssten. Und was ist mit Kapitalkosten, mit unternehmerischem Risiko?

Das „ganz nebenbei“ ist leider ein Problem der Aufführung: Die Gewichtung der verschiedenen Aspekte erscheint nicht immer ausgewogen. Die Stärke der Gruppe, Fragen der Politik und des sozialen Zusammenhalts ohne erhobenen Zeigefinger in den Raum zu stellen und offene Diskussionen zuzulassen, kommt bei „Robin und die Hoods“ nur scheinbar zum Tragen, denn pulk fiktion ist erkennbar selbst emotional resp. intellektuell involviert. Da werden doch allzu undifferenziert der Staat und die Reichen als Ausbeuter und ungerechtfertigt Besitzende in einen Topf geworfen und erwiesenermaßen in Sackgassen führende altlinke Konzepte propagiert. Pulk fiktion prangert Vorurteile an, schürt aber bisweilen neue. Auch ob man 8jährige zum zivilen Ungehorsam aufrufen sollte (der Sherwood Forest mutiert zum Hambacher Forst), erscheint zumindest dem Schreiber dieser Zeilen zweifelhaft. Die Gruppe hat ein politisches Anliegen, das den moralischen Aspekt ihres Themas überlagert. Aber die zahllosen Aspekte, die die Gruppe auf so unaufdringliche Art und Weise im Hinblick auf Verteilungsgerechtigkeit und die Schwierigkeiten ihrer Umsetzung aufwirft, sind eine grandiose Stoffsammlung. Sie reicht locker für ein ganzes Semester schulischer Aufarbeitung.

Freiwillige Spenden: Wie macht man aus Geizhälsen Philanthropen?

Regisseurin Mina Salehpour geht im Jungen Schauspiel Düsseldorf auf ganz andere Weise an das Thema heran: mit hochprofessionellen Schauspielern und in enger Anlehnung an eine literarische Vorlage, die ihr gesellschaftspolitisches Anliegen in ein poetisches Märchen kleidet. Während pulk fiktion ihren Helden Robin Hood zügig aus dem Scheinwerferlicht nimmt und aktuelle gesellschaftspolitische und soziologische Zusammenhänge in den Fokus rückt, bleibt Salehpour mit Charles Dickens scheinbar auf der individuellen Ebene. Mit Ebenezer Scrooge hat sich Dickens in A Christmas Carol aber ein besonders verabscheuungswürdiges Exemplar von raffgierigem Unternehmer und Frühkapitalisten herausgepickt.

Scrooge, nach dem Tod seines ehemaligen Geschäftspartners Jacob Marley alleiniger Inhaber des Warenhauses Scrooge & Marley, ist ein phantasie- und humorloser, aber arbeitsamer Mensch: Tag und Nacht und sonn- und feiertags arbeitet er an der Vermehrung seines Vermögens. Ein einziger Angestellter, der Schreiber Cratchit, muss genügen, um ebenso rund um die Uhr für einen Hungerlohn die Büroarbeiten zu erledigen, und wenn sein Neffe Fred einmal im Jahr auftaucht, um dem Onkel frohe Weihnachten zu wünschen und ihn zum Weihnachtsessen einzuladen, empfindet er ihn nur als Störung. Cratchit bekommt nicht einmal an den Festtagen frei, und die beiden Damen, die um Spenden für die Armen bitten, werden mit der patzigen Antwort abgewiesen, ob denn die für solche Leute vorgesehenen „Anstalten“ inzwischen abgeschafft seien: „Not und Elend geht mich nichts an.“ Freudlos futtert Scrooge am Weihnachtsabend sein Nachtmahl in einem billigen Wirtshaus und kehrt nach Hause zurück. Zu seiner Überraschung trifft er dort den Geist seines ehemaligen Partners Marley an, der ebenso geizig war wie er und nun zur Strafe schwere Ketten hinter sich her schleift, die aus Symbolen für seine Habgier bestehen.

Scrooge wird in der folgenden Nacht noch weitere drei Geister treffen: den Geist der vergangenen Weihnacht, den Geist der diesjährigen Weihnacht und den Geist der zukünftigen Weihnacht. Er trifft sich selbst als von der Familie verstoßenes Kind ohne Freunde (womit sogar eine psychologische Erklärung für Scrooges hartherziges Wesen geliefert wird), er erlebt die Weihnachtsfeier bei seinem verarmten Schreiber Cratchit und dessen sterbenskrankem Sohn und das harmonische Dinner bei seinem Neffen, bei der über den merkwürdigen Onkel Scrooge mächtig, aber stets sanftmütig und mit einem Ton des Bedauerns gelästert wird. Zu guter Letzt zeigt ihm der Geist der zukünftigen Weihnacht sein eigenes Grab und die Leichenfledderei, die mit ihm, dem offenbar zu Lebzeiten höchst unbeliebten Toten, betrieben wird. Als Scrooge erwacht, ist er geläutert: Er kauft einen Truthahn für die Cratchits, erhöht das Gehalt seines Schreibers und leistet eine großzügige Spende für die Armen.

Das ist rührselig und unglaubwürdig? Ja klar - aber nicht, wenn der Text von Charles Dickens und die Inszenierung von Mina Salehpour stammt. Denis Geyersbach nimmt man die anfängliche Bösartigkeit von Scrooge zwar kaum ab, aber im Verkaufe der Geister-Szenen läuft er zu großer Form auf und ist am Ende als begeisterter Wohltäter auf sympathische Weise völlig over the top. Die vier anderen Schauspieler teilen sich zahlreiche Rollen – mit ihrem variablen Spiel überzeugen vor allem Jonathan Gyles als sympathisch-verschmitzter Fred und als gruseliger, mit goldenen Knochen-Händen durch die Szenerie stapfender Geist der zukünftigen Weihnacht sowie Selin Dörtkardes, die unter anderem als Erzählerin sowie – im wunderbar goldglänzenden Kostüm – als Geist der vergangenen Weihnacht fungiert. Wunderbar spooky wird es, wenn Thomas Kitsche (der in der Premiere Naomi Krausz vertrat) als Geist des alten Marley an der Kette durch das Halbdunkel des Bühnenraums im CENTRAL schleicht. Vor allem in den Geister-Szenen entwickelt die Inszenierung immer wieder poetischen Zauber.

Maria Anderski lässt im CENTRAL die große Drehbühne bespielen und hat rundherum Sitzkissen auf dem Boden drapiert, so dass die Kinder nah ans Geschehen rücken können. Die ersten Reihen der Bestuhlung sind ausgebaut; auch dort sitzen schwerpunktmäßig Kinder und ihre Eltern auf niedrigen Treppenstufen und somit fast auf Augenhöhe mit den Schauspielern und den Zuschauern auf der Bühne. Nah dran zu sein, ist in dieser Inszenierung ein besonderer Vorteil: Die Aufführung sollte bereits als Weihnachtsstück 2020 ihre Premiere erleben und ist erkennbar ein Produkt des Corona-Theaters in der Prä-Impfstoff-Ära. Die damals geltenden Abstandsregeln wirken merkwürdig und tragen dazu bei, dass die nur mit spärlichen Requisiten ausgestattete große Bühne überdimensioniert erscheint. Dieser Eindruck dürfte sich in den vorderen Reihen mutmaßlich verlieren.

Mina Salehpour hat den atmosphärischen Schwerpunkt der bei Dickens eher düsteren Weihnachtsgeschichte in Richtung Fröhlichkeit und Spuk verschoben – wohl auch um die Zielgruppe der Kinder ab 6 Jahren nicht zu verschrecken. Bei der Lektüre des Buchs ist ein sozialkritischer Impetus nicht zu übersehen; eine BBC-Produktion hat die Story schon als mit Schockmomenten angereicherte Parabel auf die in der kapitalistischen Wirtschaft herrschende Gier inszeniert und in die Gegenwart geholt. Salehpour bleibt beim Märchen und inszeniert es nicht zwanghaft als Gegenwartsstück. Und doch: Letztlich ist das Thema der Inszenierung das gleiche wie bei pulk fiktions Phantasie über Robin Hood und entsprechend gleichermaßen aktuell: Der Wohlhabende wird aufgefordert, seinen Reichtum mit den Armen zu teilen. Während pulk fiktion mit kollektivem Reichen-Bashing von oben verordnete Umverteilung fordert, setzt das Junge Schauspiel mit Dickens auf die Einsicht des Individuums durch die Kraft der Nächstenliebe. Und siehe da: Integrativ statt konfrontativ vorzugehen, führt zum Erfolg. Der Reiche erkennt, dass Schenken Freude macht und Teilen zu seiner sozialen Verantwortung gehört. Scrooge teilt freiwillig und erhält sich mutmaßlich trotzdem einen erklecklichen Wohlstand. - Ein Märchen? Mag sein. Aber eines, das in der realen Welt des 21. Jahrhunderts unter den sogenannten Superreichen und auch den „nur“ Wohlhabenden mehr und mehr Vorbildcharakter hat.

Übrigens: Zu Hause hat sich der Schreiber dieser Zeilen plötzlich gefragt, wo er seine eigenen Kinder und Enkelkinder eigentlich sehen möchte: als Aktivisten im Baumhaus oder als sozial engagierte, spendenfreudige Führungskräfte. Ach, streichen Sie den Satz, wenn Sie wollen. Aber wenn Sie auch so ’nen Scrooge in der Familie haben, nehmen Sie ihn mal mit auf die Reise zu den Geistern von Gegenwart und Zukunft!