Das Himmelreich wollen wir schon selbst finden im Köln, Schauspiel

Vom Turmbau zu Babel in Köln

Das klingt erstmal spannend: Der Provokateur Oliver Frljic, der im Jahre 2017 in Polen mit seiner mit aktuellen kirchenkritischen und sexuellen Anspielungen aufgedonnerten Inszenierung eines Stücks von Stanislaw Wyspianski über das uneheliche Kind eines Priesters einen Skandal auslöste und sich staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen Blasphemie ausgesetzt sah, macht ein Stück über den Dombau in Köln. Und wie damals Der Fluch („Klatwa) in Warschau beginnt auch Das Himmelreich wollen wir schon selbst finden in Köln mit Bertolt Brecht. Nicola Gründel zitiert dessen „Fragen eines lesenden Arbeiters“: „Wer baute das siebentorige Theben?“ Sind es die Könige, die die Bausteine herbeischleppen, sind es die Cäsaren, die Kriege gewannen? Die anderen, die Arbeiter, die Soldaten, die kleinen Leute werden von der Geschichte vergessen. Das soll und will Frljics großer Bilderbogen über die Geschichte und die Geschichten rund um mehr als 870 Jahre Kölner Dom anders machen. Gelegentlich, aber nicht immer gerät dieses Vorhaben in Vergessenheit.

Nicola Gründel gehört in dem achtköpfigen Ensemble, das im Laufe der knapp zweistündigen Aufführung in unzählige, oftmals nicht näher definierte Rollen schlüpft, zu den auffälligeren Schauspielerinnen, und ihr gelingen einige der intensiveren Szenen des Abends. Aber mit dem Brecht-Gedicht setzt sie schon mal einen Ton, der sich allzu häufig wiederholt: Sie schreit. Und immer dann, wenn geschrien wird, verliert die Aufführung an Wirkung. Lesenswert dagegen ist das Programmheft: Das fasst nicht nur die 632jährige Baugeschichte des Doms zusammen, sondern berichtet auch in Kurzform von den zentralen historischen Ereignissen, die im Laufe der Aufführung erwähnt werden, und stellt die zahlreichen in diesem Zusammenhang auftretenden Personen vor. Denn letzten Endes ist die Aufführung eine Geschichtsstunde in Form einer Nummernrevue. Im Schweinsgalopp holpert sie vom Auftrag des Dombaumeisters Gerhard zum Bau der höchsten Kirche der Welt aus dem Jahre 1247 bis zum aktuellen Missbrauchsskandal und dessen mangelhafter Aufklärung. Die Methoden der Darstellung der einzelnen Episoden sind dabei genauso heterogen wie deren Qualität.

Ein Traum ist es, in dem Dombaumeister Gerhard bei Frljic seinen Auftrag erhält – ein Alptraum vielleicht: Es ist der Teufel, der Gerhard von Ryle beauftragt, mit dem Dom eine Himmelsleiter zu erstellen, auf der auch er, der Teufel („ich bin ja selbst ein Engel“), Gottes Reich erklimmen kann. Tatsächlich wird der Dom für vier Jahre zum höchsten Gebäude der Welt, und wie solche Hybris endet, weiß der Dombaumeister aus der alttestamentarischen Geschichte vom Turmbau zu Babel: Er fürchtet den Zorn Gottes. (Der Legende nach hat ihn der Teufel später tatsächlich von einem seiner Baugerüste in den Tod geschubst.) – Von morbidem Witz ist die nächste Szene, die historisch vor dem Auftrag zum Dombau stattfand: Der Erzbischof von Köln und Erzkanzler von Italien Rainald van Dassel reist nach Mailand. Yuri Englert inspiziert einen Haufen goldener Knochen, ernennt willkürlich drei Totenschädel zu Reliquien der Heiligen Drei Könige und lässt sie nach Köln transportieren. Noch heute verbergen sie sich im berühmten Dreikönigenschrein und kurbeln den Wallfahrts-Tourismus an. Die Ankunft der dreiköniglichen Knochen war wohl der Anlass für den Entschluss, über diesen eine derart monumentale Kirche aufzutürmen. Im Bühnenhintergrund sortieren in goldene Prunkgewänder gekleidete Kleriker die Knochen, und vorn diskutiert von Dassel seine Theorie, der zufolge die Reichen das Fundament der Kirche bilden. (Nur so kann auch den Armen ein Platz am Tisch des Herrn gewährleistet werden.)

So geht es denn weiter durch die Jahrhunderte: mit Geschichtsstunde und Kirchenkritik, oft parodistisch, oft papieren, manchmal mit Witz und überzeugenden Bildern erzählt. Sieben Sensenmänner und -frauen mähen erbarmungslos die Bühne; die Kirche arbeitet mit Strafen und der Androhung von Gottes Rache und ewiger Marter für die unsterbliche Seele. Zum suggestiven Sound von Daniel Regenberg wird Köln vom „Schwarzen Tod“ heimgesucht – der Pest, die wiederum die Judenpogrome nach sich zieht. Den Juden wird die Schuld an der Epidemie zugeschrieben; menschliche Puppen werden verbrannt – und eindrucksvoll wird dazu ein Volkslied angestimmt: „Ich hab‘ die Nacht geträumet … mein Liebster, bist du tot?“ Naturgemäß denkt man an die gegenwärtige Pandemie: Die Erreger erreichten die Stadt Köln zwar nicht über chinesische Fledermäuse, aber durch auf Sklavenschiffen reisende Flöhe, die sich im Fell von Ratten verbissen hatten. „Tröpfchen und Aerosole“ verbreiteten die Krankheit weiter…

Der Dombau jedenfalls kam zum Stillstand. Die Kathedrale erlitt einen veritablen Karriereknick und diente als Pferdestall. Von 1794 an gehört Köln zu Frankreich. Napoleon tritt in Erscheinung: Zähne putzend und mitsamt seinem Pferd Marengo, von dem nur fehlt, dass der Kaiser es à la Caligula zum Senator ernennt. Nicola Gründel als Napoleon zeigt: Auch kleine Männer können von oben herab agieren. Doch der Kunstsammler und -experte Sulpiz Boisserée überzeugt Napoleon von der Werthaltigkeit der Kunstschätze im Dom und von der Notwendigkeit des Weiterbaus der Kathedrale. Die Szene steht exemplarisch für die Aufführung: Gründels ironische Darstellung des Kaisers überzeugt mit ihrem Witz und ihrer Ironie; der Rest der Szene gerät albern und allzu aufgekratzt. Spröde und langweilig wird dann von der Völkerschlacht bei Leipzig erzählt, die zum Rückzug der Franzosen führt, doch Frljic kommentiert das Ereignis poppig mit Madonnas „Secret“ („You gave me back the paradise / That I thought I lost for good“), und das Ensemble steckt dazu die Köpfe durch das Triptychon von Stefan Lochners Altar der Stadtpatrone; die Hochzeit zwischen (preußischem) Staat und Katholischer Kirche schlägt fehl, weil der Erzbischof Droste zu Vischering sich weigert, Paare zu trauen, die ihre Kinder nicht katholisch erziehen wollen – Schlag auf Schlag geht es durch die kölnisch-deutsche Geschichte, und selten findet die Inszenierung zu einer wenigstens szeneneinheitlichen Erzählweise.

Doch die Gegenwart naht – und damit die Dringlichkeit der Inszenierung. Irgendwie ist es natürlich lustig, wenn die Schauspieler als die zwölf berühmten Glocken auftreten und sich mit Körpermaßen und Gewicht vorstellen, doch der Hintergrund ist bedrohlich: Mit knapper Not entkommen die Glocken dem Schicksal, als kriegswichtiges Gut eingeschmolzen zu werden und als Kanonen zu enden. Ein Brief an Rüstungsminister Speer bewahrt sie vor der Verwendung als Kriegsmaterial im 2. Weltkrieg. Die menschlichen Glocken baumeln von der Decke; Sirenen heulen, Bomben detonieren, man glaubt die angreifenden Flugzeuge am Himmel zu sehen. Flammen spiegeln sich rot an den Wänden der Kathedrale – es ist die Schönheit des Schreckens. Der Bomberpilot Divel Sheepsplit tritt auf, der zu dem Geschwader gehörte, das im Jahre 1943 die Stadt Köln in Schutt und Asche legte und auch das Gelände der heutigen Ausweichspielstätte des Kölner Schauspiels bombardierte. Der 2014 verstorbene Sheepsplit kam später immer wieder nach Köln zurück und regte ein Stück über den Kölner Dom an.

Das alles mag irgendwie spannend und interessant klingen. Doch die Inszenierung zerfällt in viele Einzelteile, die häufig spröde oder aufgesetzt wirken. Oft gerät der Humor albern, der Witz lärmend und die Historie papieren; nur vereinzelt gelingen packende Miniaturen. Durchgängig überzeugen dagegen die Lichtregie sowie die Kostüme und die Requisitenbilder mit den bigott-goldenen Klerikern und den Knochen- und Totenkopf-Skulpturen, die oft auf einer Art Altartisch ausgestellt werden. Wer auf Provokationen à la „Der Fluch“ gehofft hatte, dürfte enttäuscht werden: Wir sind nicht in Polen, und für deutsche Verhältnisse halten sich die Angriffe auf die Kirche in den wohlbekannten, hierzulande üblichen Grenzen. Aber dann folgt diese fulminante letzte Viertelstunde, für die allein sich der Besuch der Aufführung lohnt. Die gehört keinem professionellen Schauspieler, sondern Karl Haucke, dem zurückgetretenen Sprecher des Betroffenenbeirats des Erzbistums Köln im Zusammenhang mit der Aufklärung des Missbrauchsskandals. Ruhig, konzentriert und eindringlich hält er eine 15 Minuten lange Rede über den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch, über Vertuschungsversuche, die bis in die jüngste Vergangenheit des Delegats reichen. Mucksmäuschenstill wird es im Publikum bei dieser beklemmenden Rede. Die Schauspieler, die zuvor die Kleriker gespielt haben, schieben die Wand wieder an die Rampe, die zu Beginn den im Bau befindlichen Dom dargestellt und den Blick in den Bühnenraum versperrt hatte. Haucke verschwindet dahinter. Wir machen ja doch alle die Augen zu. Doch Haucke spricht weiter. Er lässt sich nicht beirren.