Übrigens …

Heartbreaking Final im Centre Pompidou Paris

Ein Wortkonzert als Weltbeschreibung

Armes, reiches Theater! Wie so oft braucht Tim Etchells nicht viel, um das rätselhafte Gesamtkunstwerk aus Sprache und Musik auf die Bühne zu bringen, das im Herbst bei den Wiener Festwochen zur Uraufführung gelangte. Das Festival d’Automne à Paris zeigt zum Abschluss einer Werkschau von Etchells Gruppe Forced Entertainment auch dessen jüngste, gemeinsam mit der kasachisch-stämmigen Musikerin Aisha Orazbayeva produzierte Show. Drei Performer (darunter Etchells selbst) stehen an drei Mikrofonen vor drei Notenständern, auf denen ihr Text platziert ist; zwei Violinistinnen benötigen keine Notenständer und fiedeln ihre schräge Komposition freihändig zwischen den Sprechern. Etchells ist in den letzten Jahren auch als Lichtkünstler, der sich vor allem mit Neon-Schriftbildern auseinandersetzt, in Erscheinung getreten, und so prangt auf einer einfachen Metallkonstruktion in Neon-Buchstaben der Titel des Abends: Heartbreaking Final. Alles was wir sonst noch sehen mögen an diesem Abend, spielt sich in unseren Köpfen ab.

Gleichförmig, fast monoton sprechen Etchells, John Rowley und Nicki Hobday ihren Text. Aisha Orazbayeva und Chihiro Ono performen Orazbayevas avantgardistische Komposition, oftmals eine Art Slow Music, die sich jedoch manchmal (wie auch der Text) zu größerer Intensität steigert. Ob sie harmonisch ist oder nicht, mag jeder für sich entscheiden; auch sie steuert jedenfalls Gedanken und Gefühle. Musik und Sprache stehen gleichwertig nebeneinander; sie formieren sich zu einem einzigen Klangkörper mit hypnotischer Wirkung, der in weiten Teilen als Komposition festgelegt ist, aber auch Raum für Improvisationen lässt. Auch die Stimmen der Schauspieler sind Musikinstrumente; ihre Intonation wirkt wie ein Singsang ohne Gesang, und es entsteht eine faszinierende Klangskulptur mit liturgischem Charakter. Aber es sind reale Worte und Sätze, die Etchells, Rowley und Hobday sprechen, und so wird die Sprache im Kopf des Zuhörers aufgeladen mit Sinn und Bedeutung.

Einer der Schauspieler beginnt: „I am frightened. I am sorry. I am thinking… I anticipate.“ Und dann, unvermittelt: „I am spitting blood.“ Oder: „I am surrendering my weapons.“ Da sprechen bereits alle drei Schauspieler: gleichzeitig, aber nicht chorisch, miteinander, nicht gegeneinander, in meist unterschiedlichen Texten, aber in gleicher Intonation und Lautstärke und ohne einander zu übertrumpfen. Der Text ist ein harmonischer Klangkörper. Schnell gerät man in eine Art Trance; die Performance wird zu einem meist dunkel grundierten experimentellen Konzert. Manchmal schwillt die Lautstärke an, und der Ton wird rauer heftiger. Dann wird man kurz aus seiner Trance gerissen; der Sound wird quietschender und disharmonischer, bevor man auf einer anderen, unruhigeren Ebene erneut in eine Art Dämmerschlaf versinkt. Manchmal kristallisieren sich einzelne Sätze heraus, die forcierter gesprochen und mehrfach wiederholt werden. „What kind of object is the sun?“, ist so ein Satz. Man denkt lange darüber nach, findet aber keine Antwort.

Das Ganze ist ein in eine musikalische Struktur gegossener Bewusstseinsstrom. Er scheint sich in mehrere Kapitel zu gliedern. Zu Beginn werden verschiedene Aggregatzustände der Welt und der Menschen aufgezählt. Die wirken zu Beginn relativ banal und alltäglich, doch bekommt der Text (der scheinbar ja auch den Zustand des Performers beschreibt) zunehmend verstörende Facetten. Einsamkeit, Ängste und Überforderungen in einer in ihrer Komplexität nicht mehr beherrschbaren Umwelt lassen sich herauslesen, ohne dass sie in den kurzen Ich-Sätzen und den späteren ellenlangen, listenhaften Aufzählungen explizit ausgesprochen werden. Dieser erste Teil endet mit Verlustängsten, mit dem Empfinden der eigenen Selbstauflösung: „I lose my track. I lose my head. I lose my brain … I lose my dignity…“ – und, in endloser Wiederholung: „I am dispersing. I am dissolving. I am decaying.“ Langsam erstirbt die Musik. So ist das Leben, denkt man, so endet es. „That time in the morning the room seems very still.“

Ergreifend ist dieses Ende, das ästhetisch wie ein zweites Kapitel wirkt: Dieser vorerst letzte Satz wird in Endlosschleife wiederholt, nur Musik ertönt: Geigenklänge von den Instrumenten der beiden Musikerinnen und Wortmusik aus den Mündern der Sprecher, die immer nur diesen einen Satz wiederholen. Endzeittheater, Trauer um einen Verstorbenen? Ja, aber das wirkt nicht in erster Linie verzweifelt, sondern still, schön, einsam. Und ist doch irgendwie auch apokalyptisch. Es ist längst nicht das Ende, denn Tim Etchells will mehr: Er schaffe das Porträt einer fiebrigen Welt, die zugleich fremd und wiedererkennbar sei, sagt er selbst zu einem Werk. Und so folgt im dritten Kapitel eine Beschreibung der Welt, in lyrischer, suggestiver, erneut hypnotisch wirkender Form. Die Bühne ist leer, aber gestochen scharfe Bilder entstehen im Kopf: Bilder von leeren Wäldern und Wüsten, Schulen und Shopping Malls, von verlorenen Menschen in den Straßen, Bahnhöfen, Gefängnissen und Krankenhäusern. Auch Filme werden zitiert, das Siechtum des Menschen, der Kultur und des Ruhms wird beschrieben – Etchells betont ausdrücklich, er habe bei der Entstehung seiner Arbeit nicht an die gegenwärtige Pandemie gedacht, aber natürlich liegen entsprechende Assoziationen nun nahe. „Saving my breath I am…“

Und „hoping for a better world“, wie es gegen Ende dieser perfekten Partitur heißt, die unvermittelt doch noch zu einem hoffnungsvollen Schluss findet. „I am trying to break your heart“, lautet das Finale. Versuch gelungen: Die Performance ist hinreißend. Nur langsam erwachen wir aus der Hypnose. Langer, langer Applaus.