Keine Liebe, kein Hass, nur Einsamkeit
Ein kleines Kleinod hat das Schauspielhaus Bochum im Repertoire, und es droht fast unbemerkt an der überregionalen Theaterszene vorüberzugehen. Auf manchen europäischen Festivals hat man die finnische Regisseurin und Schriftstellerin Saara Turunen schon kennengelernt, aber in Deutschland heißt es noch: Saara wer? Vielleicht klingt auch der Titel ihres Stücks, das sie zum Auftakt der Spielzeit in den Kammerspielen inszeniert hat, nicht allzu attraktiv: Das Gespenst der Normalität haben die meisten doch zu Hause im Wohnzimmer sitzen, und es ödet sie nach langen Ehejahren an. Aber es soll Menschen geben, die eine große Sehnsucht nach genau solcher Normalität im heimischen Wohnzimmer haben. Veronika Nickl ist so eine Frau, zumindest in ihrer Rolle in Turunens Inszenierung. Sie ist Mutter einer vierköpfigen Familie und hat „nur einen Wunsch im Leben: dass ich normal sein darf, in einer ganz normalen Familie.“ Geradezu zwanghaft achtet sie darauf, „dass man sich nicht unnötig von der Masse abhebt.“ - Kennen sie die auch, solche Leute? Ganz nett, aber auf die Dauer langweilig? Oder achten Sie gar selbst darauf, sich nicht allzu sehr von der Masse abzuheben?
In dem Gruppendynamik-Seminar, an dem der Schreiber dieser Zeilen vor 35 Jahren teilnehmen durfte, fing der sympathische junge Mann, dem wir rückmeldeten, ihn auch nach drei Tagen noch kaum zu kennen, weil er keine Ecken und Kanten habe, an zu weinen. Seine Unauffälligkeit war ihm zum Trauma geworden. In ihrem aus zahllosen Kurz- und Kürzest-Szenen zusammengesetzten Stück zeigt Saara Turunen Menschen, die ein ereignisloses Leben führen in einer typischen Mittelklasse-Familienaufstellung ohne Mut, ohne Liebe, aber auch ohne Hass. Die sich nicht trauen, aus der Rolle zu fallen, sich abzuheben aus der Masse. Turunen führt scheinbar die Normalität in ihrer ultimativen Ausprägung vor. Seien wir ehrlich: Wir kennen sie alle aus eigener Anschauung - die gefrustete Mutter, die zum liebevoll gekochten Essen ruft, aber alle hängen nur vor der Mattscheibe und reagieren nicht; die gehässigen Gedanken beim Anblick einer allzu dicken Frau (wie gut, dass wir normal sind!), die doofen „lustigen Spielchen“, mit denen die Verwandtschaft das Brautpaar auf der Hochzeit quält; das peinlich unbeholfene Wohnzimmerkonzert; die nicht minder peinlichen Nikolausmützen, die man bei der öden Weihnachtsfeier im Kreise der Familie trägt; das schablonenhafte, inhaltslose Salbadern über soziale Ungerechtigkeiten; die wichtigtuerischen Männer, die aus welchem Anlass auch immer eine Fahne hissen; die stummen, spießigen Kerle mit ihren Bierflaschen in einem Nachtclub.
Natürlich ist nichts normal. Die Männer, die die Fahne hissen, sind vermutlich Jäger - jedenfalls werden sie durch den Jägermarsch von Jean Sibelius angekündigt. Doch ihre Fahne ist eine blaue Unterhose, und der Gruß, zu dem sie dann ihren Arm erheben, erinnert fatal an den Hitlergruß. Der todunglücklichen Braut ist das aufgezwungene Spiel so peinlich, dass sie sich unter den Tisch verkriecht. Der Frau beim Therapeuten sitzt ein veritabler Wolf gegenüber. Die Männer im Nachtclub schlafen fast ein vor Langeweile, wenn sie ankündigen, es „heute mal so richtig krachen“ lassen zu wollen. Wunderbar absurd sind diese Szenen, oft auch poetisch, fast immer melancholisch - und manchmal tieftraurig. Zu Beginn schneit einmal eine gänzlich unnormale Figur hinein: Niki Verkaar, Gast im Bochumer Ensemble und hinreißend an diesem Abend, erscheint für den Bruchteil einer Sekunde im knallbunten Flamenco-Kleid, das so gar nicht zu dieser spießigen Personnage zu passen scheint. Später, als man längst nicht mehr glaubt, dass sowas normal sein kann, wird Veronika Nickl, die Mutter der Familie, erkennen, dass auch sie „was ändern“ möchte: „Ich möchte auch irgendwann mal Spaß haben.“ Die Flamenco-Tänzerin wird dann einen für diesen Abend ungewöhnlich temperamentvollen Auftritt haben - mit heißen Rhythmen. Doch draußen schneit’s. Das alles ist wohl nur ein Traum. Normalität bedeutet nicht Freiheit, sondern selbst auferlegten Zwang, und das zwanghafte Bemühen um Normalität ist meist nicht weit von Scham. Das Ausbrechen aus der Normalität ist häufig angstbesetzt. Nickl wird mehrfach an diesem Abend weinend die Szene verlassen - aus Angst, aus Scham, aus Fremdscham. Und - wie der junge Mann aus dem Gruppendynamik-Seminar - aus Mangel an Beachtung.
An der Bushaltestelle sitzt eine Frau mit Kinderwagen und Vogelkopf. Dominik Dos-Reis und Michael Lippold, die gerade über die sozialen Ungerechtigkeiten salbadert hatten, klauen ihr die Handtasche, doch die Beute besteht aus nichts als Vogelfedern. Ungewöhnlich oft taucht das Vogel-Motiv an dem knapp 100minütigen Abend auf. Wir sehen Bilder des finnischen Naturmalers Ferdinand von Wright, der auf Vogeldarstellungen spezialisiert war. Auf dem TV-Bildschirm im Wohnzimmer läuft ein Film über Wildvögel. Der bei der Hochzeit gestreute Reis wird zur Todesfalle für die Tauben (sie könnten explodieren!). Mehrfach tragen die Figuren Vogelmasken - einmal zum Beispiel treten vier von ihnen als Spatzen auf, nur Marius Huth trägt eine Papageienmaske: der Außenseiter, der Unnormale, der sich aus der Masse abhebt. Vögel, so erläutert Saara Turunen im Gespräch mit der Dramaturgin Dorothea Neweling, stehen in der finnischen Mythologie für Seele und Tod. Sie überbringen die Todesnachrichten.
Gleich in der allerersten Szene hatte Niki Verkaar eine Traueranzeige vorgelesen und sie an die Wand gepappt. Am Schluss wohnen wir einer Beerdigung bei. Die Figur der Niki Verkaar ist tot. Die Anzeige hatte wohl ihr selbst gegolten. Und wieder ist es wie bei der verunglückten Hochzeitsfeier oder dem öden Adventskaffeetrinken: Alle tun, was normal ist. De mortuis nihil nisi bene: Schablonenhafte Reden werden gehalten, die überschwänglich die guten Eigenschaften der Verstorbenen hervorheben. „Warum sagt man die schönen Sachen nur einem Toten?“, fragt Niki Verkaar, die als Wiedergängerin ihrer selbst zur Tür hereinkommt? „Ich hätte sie gern zu meinen Lebzeiten gehört.“
Aber das wäre ja nicht normal. Wäre entweder gelogen oder man würde sich outen, seine Komfortzone verlassen. Sich von der Masse abheben - sowas tut man doch nicht. - Turunens Miniaturen, wiewohl naturgemäß nicht alle gleichermaßen stark, sind in ihrer Gesamtheit hammerstark. Sie sind genau wie die Normalität: absurd, berührend, komisch - und todtraurig. Keine Liebe, kein Hass, aber Einsamkeit. Immer.