Hetero-Romantik und andere Spielarten der Liebe
Amüsieren Sie sich gut. Blicken Sie bloß nicht vor dem Besuch der Aufführung ins Programmheft. Dort berichtet die Dramaturgin Hannah Saar von einem angeblichen Selbstversuch mit der sogenannten romantischen Liebe. Sie habe (immerhin!) wie nahezu alle Menschen die „angelernte Sehnsucht nach dieser einen Person, die alles für einen ist“, gehabt. Hatten Sie die nicht auch mal? Empfanden Sie die als angelernt? Dass diese Sehnsucht dem menschlichen Wesen immanent ist, glaubt Frau Saar nicht und erzählt von ihrem Versuch, sie in Einklang zu bringen mit dem (Original-Zitat!) „Wissen, dass die romantische Liebe ein im patriarchalischen Kapitalismus gewachsenes Konstrukt ist, das auf Geschlechterungerechtigkeit basiert“. Ja klar, wahrscheinlich hat Bill Gates sie mit ‘nem Chip in unsere Herzen implantiert…
Da haben wir es also wieder, dieses Verkopfte, das zur Zeit so viele Inszenierungen am Dortmunder Schauspiel in ihrer Wirkungskraft einschränkt, dieses tiefe, freudlose Misstrauen in den Menschen, der die Mehrheitsgesellschaft repräsentiert. Also heterosexuell und weiß ist. Und mehrheitlich eine zunehmende Diversität unserer Gesellschaft begrüßt, weil sie bereichernd ist für unser aller Leben. Azeret Koua kennt dieses Misstrauen, teilt es vielleicht sogar in vielerlei Hinsicht, aber verkopft ist ihre Inszenierung von Sartres Das Spiel ist aus nicht. Ihr gelingt eine wunderbare, leichthändige, unterhaltsame Arbeit, bei der Sie sich gut amüsieren können. Und trotzdem ausreichend Gelegenheit zum Nachdenken und zur Überprüfung Ihrer Standpunkte erhalten.
Sartres Text ist kein Theaterstück, sondern ein Drehbuch. Es wurde im Jahre 1947 von Jean Delannoy verfilmt. Eve, Gattin des Milizsekretärs André Charlier, und Pierre, Gründer der antifaschistischen „Liga“, einer Untergrundorganisation, die das Regime, dem André angehört, bekämpft, werden zur gleichen Zeit an unterschiedlichen Orten ermordet – Pierre von einem Spitzel des Regimes und die reiche Milizsekretärinnen-Gattin Eve von ihrem Mann, der es mutmaßlich auf das Geld der Familie abgesehen hat und sich nun an ihre Schwester Lucette heranmacht. Etwas orientierungslos treffen sich die beiden Todesopfer am Eingang zum Totenreich, wo sie gleich eine, sagen wir: intensive Zuneigung zueinander fassen. Tatsächlich stellt sich heraus, dass es ein Fehler im Räderwerk des Schicksals war, dass sie starben, bevor sie einander kennengelernt hatten. Denn eigentlich waren die beiden füreinander bestimmt. Und so erhalten sie von den Verwaltern des Totenreichs die Chance auf einen Neuanfang unter den Lebenden - vorausgesetzt, sie verlieben sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden und vertrauen einander trotz aller eventuell auftretender Störfaktoren. Die (Ex-) Ehefrau eines Vertreters der nationalistischen Diktatur und der Gründer der das Regime bekämpfenden Untergrundorganisation - kann das gutgehen?
Das verraten wir nicht. Aber zumindest Kouas Inszenierung geht gut. Schon die Musik von Lutz Spira ist klasse: Minutenlang gewittern Strobolight und Techno-Klänge, bevor es endlich losgeht: Die transition vom Leben in den Tod ist mit einigem Spektakel verbunden. Der Eintritt in die neue Welt vollzieht sich dagegen eher wie ein Termin beim Straßenverkehrsamt: Im Warteraum werden Nummern gezogen, und eine Frauenstimme antwortet aus dem Off geschäftsmäßig, aber präzise auf alle Fragen des neuen Kunden. Die Stimme wandert im Raum, kommt mal hierher, mal daher, aber offensichtlich sitzen die Bürokraten in dem anthrazitfarbenen Häuschen auf der Bühne, durch dessen Fenster die neuen Bewohner ihre Aufnahme in das Reich der Toten unterschriftlich bestätigen müssen. Bei einem Existenzialisten wie Sartre landet man nicht bei Gott oder Teufel, aber treffend gestaltet scheint das Häuschen schon, sieht es doch aus wie ein etwas überdimensionierter Beichtstuhl. Die Frau vom Amt, die dem Beichtstuhl innewohnt, verfügt über Humor, Schlagfertigkeit oder beichtvätertypischen Zynismus und zitiert am laufenden Band passende Liedtexte und Sprichworte: Über sieben Brücken musst du gehen, durch den Monsun, und dann siehst du vielleicht Licht am Ende des Tunnels.
Eve und Pierre jedenfalls gehen den Weg zurück in die hoffentlich widerstandsfähige Liebe. Und wo verliebt man sich am besten? - Falsch. Raten Sie nochmal. Es ist die Kirmes. Raphael Westermeier macht einen phantastischen Ausrufer – wenn der Schausteller-König Oscar Bruch demnächst einen jungen Mann zum Mitreisen sucht, sollte er mal beim Schauspiel Dortmund nachfragen. - Sarah Yawa Quarshie sieht toll aus in ihrem rosafarbenen Seidenkleid. Sie könnte auch Scarlett O’Hara spielen, was ja schon mal ein Statement ist in diesen identitätspolitischen Zeiten, in denen man Margaret Mitchell Rassismus vorwirft. Mit Seufzern, Schmelz und Augenaufschlag parodiert sie wunderbar die Vorstellungen des Hollywood-Films von der romantischen Liebe. Ihre Eve ist eindeutig der Oberschicht zugehörig. Mit seiner Vokuhila-Frisur und dem etwas zu blauen Anzug entstammt Adi Hrustemovics Pierre dagegen eher dem Arbeiter-Milieu der 1970er Jahre. Wenn die zwei tanzen, geben sie ein schickes Instagram-Paar ab, das nicht ohne Chancen auf eine Influencer-Karriere wäre. Bloß: Für was influencen sie? Sie sollten für ihre große Liebe stehen – und haben doch noch die Ziele der Liga und die gefährdete Schwester im Kopf (voller Upperclass-Launen und Willkür: Antje Prust).
Pierre erkennt bald: Im Totenreich war die Liebe einfacher. Er wird misstrauisch, skeptisch – und verliert das Vertrauen, als er erfährt, dass Eve aus der herrschenden Schicht der Nationalisten stammt. Wenn Verliebte vollkommen konträre politische Einstellungen haben und in unterschiedlichen Milieus sozialisiert wurden - kann das gutgehen? Die reiche Frau aus der herrschenden Klasse und der eher mittellose Mann, der ein Aufsteiger ist? Siegt der Ehrgeiz über die Liebe? Der mütterliche Beschützer-Instinkt gegenüber der Schwester über die Partnerbeziehung? Implizit werden weiblich-männliche Rollenklischees hinterfragt, wie wir sie aus romantischen Filmen kennen, vielleicht gar Probleme einer Identitätspolitik im Sinne von Klassenzugehörigkeit. „Früher, vor langer Zeit, gab es eine sehr spezielle Form von Liebe. Sie galt nur einem einzigen Menschen. … Sie half, die Ordnung der Menschheit aufrecht zu erhalten, und die zwischen Mann und Frau. Das machte es für die Menschen einfacher. Für manche. Nicht für alle“, kommentiert Antje Prust verschmitzt und verweist auf den eigentlichen Kern von Kouas Inszenierung.
Koua inszeniert humorvoll, nutzt Comedy-Elemente, macht aus Sartres Vorlage eine Schmonzette – doch nie rutscht die Aufführung ins Alberne ab. Man erfreut sich an den Bildern der schmachtenden, romantischen Liebe, den (schon bei Sartre) einfach gestrickten, oft klischeehaften, aber stets witzig gespielten konfliktären Konstellationen."Es gibt sie noch, die Hetero-Romantiker", wundert sich Raphael Westermeier - ungläubig, augenzwinkernd, jedenfalls nicht aggressiv. Ironisch lässt Koua André und Lucette einmal einen Rollentausch vornehmen oder eine Art Domina-Szene durchspielen. Auch den Gender-Wahn treibt sie köstlich auf die Spitze: Wenn André ihren Wünschen nicht nachkommt, will sie ihn den „Alligator*innen“ zum Fraß vorwerfen. Koua prangert nicht an. Sie wirkt nicht ideologisch verbohrt; sie fährt keine Attacken auf die Paarbeziehung als angeblich patriarchalisches Konzept, aber sie lässt keine Zweifel daran, dass das Konzept der heterosexuellen Monogamie heute um vielfältige andere Modelle erweitert werden muss. - Für die beiden klischeehaften heterosexuellen Romantiker mit ihren starken Nebeninteressen hat sie jede Menge Sympathie übrig. Die ihnen gewährten vierundzwanzig Stunden laufen ab, und es kommt zum spannenden Countdown. In Zeitlupe stürzen Eve und Pierre aufeinander zu. Werden sie einander rechtzeitig in die Arme fallen?
„Die Zeit bleibt für keinen Menschen stehen“, weiß Antje Prust, jetzt wieder die Administratorin des Totenreichs. Und das ist auch eine Botschaft an die Welt des 21. Jahrhunderts, in dem Toleranz und Diversität gefragt ist. Auch in der Liebe.