AufRuhr im Schauspiel Essen

Die Spaltung der Gesellschaft auf die Spitze getrieben

Wer auf sich hält, ernährt sich mit Naturkost. Janina Sachau beißt ab und zu in eine Möhre oder futtert ein Radieschen. - Töchter aus gutbürgerlichem Hause entspannen sich bei einem Buch. Trixi Strobl sitzt, wie man auf einem der zehn großen Bildschirme, auf denen sich weite Teile von Volker Löschs jüngster Inszenierung abspielen, erkennen kann, entspannt am Fenster und liest. Die Öko-Frau und die Bürgerstochter - da fallen uns doch jede Menge Klischees ein, oder? - Tja, so kann man sich täuschen.

Janina Sachau gibt die Immobilien-Investorin Frau van Velt (die Namen sprechen; wir werden es schnell merken). Im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab (nämlich aus einem Hubschrauber) blickt sie auf den Essener Norden, auf die prekären Stadtviertel Altenessen und Katernberg: „Was ist denn das? - Sieht aus, als kann das weg!“ - Trixi Strobl ist Lena, die Tochter der Bauunternehmerin Haussmann, und heißt gar nicht gut, dass ihre Mutter im Verbund mit Oberbürgermeister Kühn und Frau van Velt den Menschen im Norden ihre Heimat wegnehmen will. Sie findet sich bald im Straßenkampf wieder.

Upstairs, downstairs: Das heißt in Essen Süden gegen Norden oder, aus Richtung Duisburg kommend, rechts von der A 40 gegen links von der A 40. Wohl in kaum einer anderen Stadt teilt eine Autobahn so krass die Verhältnisse in Reich und Arm. Schon einmal haben Christine Lang und Volker Lösch im Essener Grillo-Theater die Verhältnisse diesseits und jenseits des „Sozialäquators“ thematisiert. 2018 war das, und für seine Inszenierung von Der Prinz, der Bettelknabe und das Kapital (Rezension siehe hier) hatte Lösch das Parkett einmal längs geteilt: in den Norden und in den Süden. Im Norden gab es weder Stühle noch vernünftige Bildschirme, im Süden gestochen scharfe Bilder und bequemes Mobiliar. Diesmal hat er die Theatersessel im gesamten Parkett räumen lassen. Man sitzt coronagerecht, aber rückenstrapazierend drei Stunden lang auf um 360° drehbaren Tonnen und blickt abwechselnd auf die zwei kleinen Bühnen an den Querseiten des Raumes, die zehn Bildschirme oder auch auf das Geschehen direkt zu seinen Füßen. Bannig was los ist immer, mal hier, mal da, mal überall.

Wer beim Einlass seine Augen ganz besonders anstrengt, kann erahnen, dass Trixi Strobl am Fenster in einem der Thriller von Robert Ludlum schmökert, die meist vom Kampf des Einzelnen gegen übermächtige Gegner handeln. Ein solcher Thriller erwartet uns auch im Grillo in den nächsten drei Stunden: Oberbürgermeister Kühn hat einen kühnen Plan, und Frau van Velt hat ihm den stolzen Namen verliehen: „Essen 5,0“. Wow, sind das tolle Bilder, die die Investorin da entworfen hat - da können Altenessen und Katernberg ruhig weg! Visionen von einer futuristischen grünen Stadt breiten sich vor uns aus, einer Stadt mit tollen Wohntürmen, architektonisch hinreißenden Veranstaltungszentren, autonomem öffentlichem Nahverkehr, eigener Brauerei und eigenem Honig. Und, dies nur nebenbei, 20 000 Sozialwohnungen für 60 000 Menschen. Das Ganze hat, seien wir ehrlich, ein bisschen was von Metropolis, und da gab’s (wissen Sie‘s noch?) eine Unterstadt, in der die Werktätigen malochten für das Wohl der Reichen und der Schönen und niemals mehr das Tageslicht sahen. Aber „Essen for Future“ sieht schon verführerisch aus - und treibt dem OB die Dollarzeichen in die Augen.

Die Dollars könnten bald für Schulden stehen. Bergbauschäden führen zu exorbitanten Ausgaben im Zusammenhang mit der erforderlichen Verfüllung der Stollen und Hohlräume; Entschädigungen für die alten Anwohner wegen des Verlusts ihres Wohnraumes waren wohl auch nicht so richtig einkalkuliert. Und so kommt, was kommen muss: Als erstes fliegen mal die Sozialwohnungen aus dem Plan. Und so droht nicht nur Adile, der jungen, agilen Putzfrau der Haussmanns, mit der sich Lena alsbald verbündet, die Wohnungslosigkeit, sondern auch dem friedlichen, auf Ausgleich bedachten Rentner Grube, der noch heute die Niederlage der Roten Ruhrarmee bedauert, die nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches 1920 für ein paar Tage das Ruhrgebiet in eine Arbeiterrepublik hätte verwandeln können. Es formiert sich Widerstand. Wie schnell die Lage eskaliert, verschlägt einem den Atem.

Selbstredend führt der Versuch der Bevölkerung aus den Armenvierteln, sich mit den üblichen juristischen Mitteln gegen eine Zwangsräumung zu wehren, nicht zum Ziel. Der Oberbürgermeister benötigt Investitionen, und ihm schwimmen die Felle weg. Der Druck wird erhöht; Räumungsklagen werden verschickt; Bauarbeiter tauchen in noch bewohnten Wohnungen auf. Der Widerstand wird zu zivilem Ungehorsam; der wiederum provoziert Angriffe auf Leib und Leben - und zwar von beiden Seiten. Die gewaltsame Räumung der Wohnungen treibt die Bewohner zu den Waffen; ihr Widerstand mündet in einer Sprengung der Wohnungen durch die Baugesellschaft ohne Rücksicht auf Menschenleben. Im Grillo ist die Hölle los: spannende Demagogie, Polit-Randale, bewaffnete Gruppen stehen einander gegenüber. Den Oberbürgermeister packen nun doch die Skrupel, Frau van Velt treibt ihn weiter in die Eskalation - und der rechtsradikale Polizeikommissar Reich rückt die mit zugegebenermaßen allzu radikalen Methoden vorgehenden Protestler in die Nähe von Terroristen und sieht die Chance, sich ein paar der Störer und Randalierer aus dem verhassten Migranten-Milieu final zu entledigen. Stattdessen aber trifft den Oberbürgermeister eine Kugel. Ein Hacker kommt den Protestierenden aus dem Norden zu Hilfe - zunächst wählt er sich in die Netze von Polizei und Politik ein und verrät deren Strategie; später schaltet er das Handynetz ab. Gut gemeint ist schlecht gedacht: Denn nun kommen Feuerwehr und Krankenwagen nicht mehr zu den Opfern des Straßenkampfs durch.

Das alles ist sagenhaft temporeich und spannend. Nicht erst die rhetorischen, agitatorischen und körperlichen Kampfszenen wirken unglaublich authentisch und glaubwürdig. So könnte sie funktionieren, die ultimative Spaltung der Gesellschaft, und sie könnte schneller vor der Tür stehen als erwartet. Die Grundlagen sind längst gelegt: durch Immobilienspekulation und rücksichtslose Gentrifizierung auf der einen Seite, durch unversöhnliche, systemfeindliche politische Positionen auf der anderen. Lösch lässt zwei extreme Lebenswelten aufeinanderprallen: rücksichtsloses Profitstreben und ultralinke gewaltbereite Gruppen. Wobei die Gewaltbereitschaft nicht von Beginn an vorhanden ist, sondern sich entwickelt, weil weder ein vernünftiger Dialog stattfindet noch Kompromissbereitschaft vorhanden ist. Auch diesmal hat Lösch wieder - coronabedingt nur im Film - eine Vielzahl von Laien gecastet, die ihre eigenen Positionen in die Diskussion einbringen. Ziemlich gnadenlos lässt Lösch die Aktivistinnen und Aktivisten im Alter von circa 10 (!) und 30 Jahren ihre Parolen verbreiten. Durchdachte, wenn auch mutmaßlich in ihrer eigenen Partei kaum mehrheitsfähige Positionen wie die der jungen Kölner Grünen-Stadträtin Dilan Yazicioglu sind da die Ausnahme. Andere erwachsene und heranwachsende Aktivisten formulieren in vollem Ernst Forderungen wie die Abschaffung des Polizeisystems, sehen „Vandalismus als Befreiungsschlag“, haben sich zum Ziel gesetzt, „die Wirtschaft über so viele Wege wie möglich zu schädigen“ und kündigen heute schon mal für den Fall ihres politischen Sieges an, „die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland (zu) beachten, soweit sie unseren Richtlinien entsprechen. Den Rest beachten wir nicht.“ Und eine Elfjährige beschreibt erfrischend ehrlich ihre Motivationslage: „Wenn ich mal Wut habe, dann schwänze ich freitags mal gern die Schule. Demos machen mir richtig Spaß.“

Solche undurchdachten Abstrusitäten mögen ebenso eine verschwindende Minorität repräsentieren wie ein in der Hierarchie weit vorangekommener nationalistischer und rechtsradikaler Polizeikommissar, der gern auf Demonstranten schießt - aber die Existenz solcher radikaler Positionen lässt sich nicht verleugnen. Was die Aktivistinnen und Aktivisten formulieren, sind allerdings im Wesentlichen Aussteiger-Konzepte - und wären es in jedem politischen System dieser Welt, nur dürften sie außerhalb der freiheitlichen demokratischen Welt nicht so offen geäußert werden. Wesentlich mehr für das Anliegen der Inszenierung tragen die ausnahmslos überzeugenden professionellen Schauspielerinnen und Schauspieler bei, zuvörderst Anna Bardavelidze als Adile, die kämpferische, intelligente, kickboxende Altenessener Putzfrau der Haussmanns, die weite Teile der Inszenierung trägt und die Radikalisierung der Protestbewegung beglaubigt, ohne jemals die Sympathie für ihre Figur preiszugeben. Großartig gelingt auch Jan Pröhl die Figur des eigentlich friedliebenden Rentners Grube: Wenn er zeigt, wie es in ihm brodelt, lange bevor er sich auf Aufforderung durch die jungen Leute zu einem der Anführer der Protestler aufschwingt, ist das große Schauspielkunst. Janina Sachaus Zynismus, stets mit einer gewissen Distanz gespielt, ist sogar ein Beispiel für den gelegentlich durchschimmernden Humor der Inszenierung: Je krasser ihre Aussagen sind, desto mehr werden sie mit Hall unterlegt - wie bei einer Hexe aus einem bösen Märchen-Film.

Bloß: Ein Märchen ist es nicht, was uns da vorgeführt wird. Man traut sich kaum zu behaupten, es sei eine Dystopie. Wenn wir nicht aufpassen, wird die beste Inszenierung, die Volker Lösch seit langem vorgelegt hat, irgendwann zur bitteren Wahrheit.