Molière - Im Blick von Frank Castorf
Seit gut vier Jahren ist Frank Castorf nicht mehr Intendant der Berliner Volksbühne (1992 bis 2017). Seitdem tingelt er als gern gesehener und viel beschäftigter Gastregisseur an vielen deutschsprachigen Bühnen: Hamburg, Wien, Berlin, München. Zum dritten Mal in den letzten drei Jahren inszeniert er jetzt am Kölner Schauspielhaus. Dieses Mal hat er sich einen der berühmtesten und produktivsten Autoren der Theatergeschichte vorgenommen, der vor fast genau 400 Jahren (15. Januar 1622) geboren wurde: Molière. Untertitel des Abends: Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet. Aufgeklärt wird dieser Satz nicht. Er ist wohl eine Mischung aus Schopenhauer und Bibel.
Das Bühnenbild erinnert an alte französische Filme. Auf dem Rückaushang sehen wir vier schwarz gekleidete, riesengroße Männer mit Zylinderhut, die offenbar aus Zeitungen vor-singen. Davor steht ein alter gelber Citroen-Kastenwagen mit kolonialer Bananenwerbung. Um ihn gruppiert sich ein buntes Völkchen und spielt das L’illustre Théâtre, in dem Molière Schauspieler, Autor, Regisseur und Chef der Truppe ist.
Eine theatergeschichtliche Abhandlung ist bei einem Regisseur wie Frank Castorf nicht zu erwarten. Es gibt immerhin zu Anfang und am Ende des fünfeinhalbstündigen Abends einige biographische Informationen über Figur und Wirkung von Molière. Dann folgt ein breiter Assoziations-Kosmos ohne roten Faden.
Da zankt Molière witzig-fiktiv mit seinem Ensemble und kriegt Contra von den Frauen,Madeleine, Mitgründerin der Schauspieltruppe und Amande, seiner Ehefrau. Oder. Das von der Kirche verbotene Stück Tartuffe gibt Anlass an den ebenfalls zensierten russischen Dichter Michail Bulgakow zu erinnern und den im sowjetischen Gulag ermordeten Regisseur Meyerhold. Das Stück Der Bürger als Edelmann bietet Gelegenheit einen komischen Blick auf Menschen zu werfen, die in höhere Kreise aufsteigen wollen durch Unterricht im eloquenten Sprechen, in Philosophie, Fechten oder Tanz.
Die Live-Kamera leuchtet beeindruckend in geheime Orte, eine feudale Badewanne oder ein festliches Esszimmer. Manchmal macht sich das Ensemble vor der Kamera einen Jux, etwa wenn es den Song „Lola“ von den Kinks schmettert. Ganz ohne Bezug zu Molière monologisiert das japanisch-stämmige Ensemblemitglied Kei Muramoto ausführlich über Japan und den Butoh-Tanz, dazu laufen amerikanische Filmbilder vom Abwurf der Atombombe auf Hiroshima.
Das Kölner Ensemble zeigt große Spiellaune. Im Castorf-Stil, der Naturalismus oder Fernseh-Realismus vermeiden will, geben dabei vor allem die Männer viel Druck und Lautstärke in die Texte. Diese schreiende Sprechart macht die französische Gast-Schauspielerin Jeanne Balibar nicht mit. Sie spricht angenehm besonnen, spielt mutig, auch nackt, tanzt und singt sehens- und hörenswert. Mit hervorragendem Deutsch ist die aparte Spielerin der leuchtende Stern, der Star dieser Aufführung.
Das Stück „Molière“ ist weniger provokant und politisch als frühere Castorf-Abende, aber durchaus abwechslungsreich. Das hilft darüber hinweg, dass der fünfeinhalbstündige Abend im Grunde eine Zumutung ist, zu lang und zu selbstverliebt. Aber die Herausforderung lohnt sich. Die Aufführung bietet überraschende Ideen, grandiose Bilder und ist auf jeden Fall ein Erlebnis.