Konflikte der Gegenwart
Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer, 1978 in Linz geboren, hat Gerhart Hauptmanns (Jahrgang 1862) Klassiker des Naturalismus in unsere Gegenwart übertragen. Und dabei das ursprüngliche Personal von neunzehn auf sieben Personen reduziert. Das ermöglicht eine nähere Beleuchtung der Beziehungen.
Thomas Hoffmann hat durch Heirat in die reiche Unternehmerfamilie Krause seinen sozialen Aufstieg gesichert. Er führt die Firma, die Karosserien herstellt, äußerst erfolgreich und sieht sich dadurch als Mitglied der gesellschaftlichen Elite. Seine Frau Martha, Tochter aus der ersten Ehe des alten Firmenchefs Egon Krause, erwartet ein Kind, was seine Position in der Firma stärken wird. Ferner zur Familie gehört Helene, Marthas jüngere Schwester. Und Annemarie, Krauses ehemalige Sekretärin und Ehefrau Nummer Zwei.
Als Thomas‘ Studienfreund Alfred Loth nach zehn Jahren Sendepause überraschend vor der Tür steht, müssen die beiden feststellen, dass eine unüberwindliche Kluft sie und ihre Weltanschauungen trennt. Hier der rechtspopulistische Unternehmer, dort der linke Journalist, der seinen Freund mit Fragen zu gesellschaftlichen und politischen Themen nervt. Alfred kann es nicht fassen, wie sein Studienfreund sich verändert hat: „Wir sind wie zwei Pole, was ist passiert?“ und „Wir driften auseinander.“
Schon der Titel Vor Sonnenaufgang deutet einen Übergangszustand an, zwischen aufgesetztem Optimismus und Depression wartet man auf eine glücklichere Zukunft.
Regisseur Tom Gerber interessiert an dem Stück, dass es die Konflikte der heutigen Gesellschaft spiegelt. Er nennt sie „eine Gesellschaft von Egoisten, deren Interessen immer weiter auseinanderdriften“. Und die nicht bereit sind, sich mit anderen, die eine unterschiedliche politische Meinung haben, auseinanderzusetzen.
Im Rheinischen Landestheater war der Zuschauerraum bei der Premiere nicht voll besetzt, was sicher Corona geschuldet war. Schon vor Spielbeginn wandert ein seltsam gekleideter Mann (langes, dunkles Cape, Zylinder, Arzttasche) über die Bühne, um sich dann rechts in einer Seitengasse als Zuschauer niederzulassen. Wie wir später erfahren, ist es Dr. Schimmelpfennig (Sebastian Muskalla), der Arzt der Familie. Dieser Beobachter des Geschehens äußert die wahren Worte: „Man ist so selten dran am Glück.“
Die Bühne besteht aus einer Art Wintergarten, einem unwirtlichen Ort, an dem sich alles abspielt. Auf der rechten Seite sehen wir die Baustelle für den geplanten Anbau. Häufig dröhnt Baulärm. Sehr laute Rammstein-Musik lasst den Saal kurzfristig erbeben. Wir lernen eine emotional gestörte Familie kennen. Zunächst Thomas Hoffmann (Benjamin Schardt spielt ihn unterkühlt-selbstbewusst) und seine Schwägerin Helene. Anna Lisa Grebe überzeugt als eine der wenigen Emotionen zeigenden Personen, verliebt sie sich doch in den Überraschungsgast Alfred Loth (Ulrich Rechenbach). Ihre depressive Schwester Martha (Isa Weiß) betont zwar, wie erst durch ihr Kind zur Frau werden wird. Wahre Vorfreude auf den Nachwuchs merkt man jedoch nicht. Auch Thomas geht mit dem Thema nur sparsam-sachlich um. Der Patriarch der Familie, Egon Krause, wird von Carl-Ludwig Weinknecht gespielt. Lange, weiße Flatterhaare, schwarz umrandete Augen und mehr am Alkohol als an der Firma interessiert. Seine Frau Annemarie (Juliane Pempelfort) zetert und kritisiert gern: „Ich habe in eine Sippe eingeheiratet, die keine Uhrzeit kennt.“ Jegliche Nestwärme fehlt dieser Familie, sieht man von Alfreds und Helenes jungem Glück ab.
Tom Gerber kann sich auf ein hervorragendes Ensemble verlassen, dem es gelingt, die hier verhandelten menschlichen und politischen Konflikte glaubhaft zu vermitteln.