Jokaste. Herrscherin
Es gäbe so viel zu loben: die tolle Bühne von Nadja Sophie Eller, die dosiert, aber ungeheuer wirkungsvoll eingesetzte elektronische Musik von Mieko Suzuki, das herausragend choreografierte Spiel der Farben und der Bewegungen, die großartigen Nebenfiguren (allen voran Pierre Bokma als Theiresias und Risto Kübar als Hirte). Johan Simons‘ Inszenierung erreicht einen solchen Grad an Perfektion, dass man seitenlang schwärmen möchte und in allen Details berichten. Aber alles wäre wohl nichts ohne die beiden herausragenden Hauptdarsteller. Und so wollen wir uns auf sie konzentrieren: auf das Königspaar. Zwei Menschen, die so harmonisch zusammenarbeiten und deren Wege sich am Ende doch trennen müssen. Zwei Figuren, die von einer fast unmenschlichen Souveränität sind. Einer wird am Ende zusammenbrechen.
Ödipus, Herrscher haben Mieke Koenen, Elsie de Brauw und Susanne Winnacker ihre Neufassung des Dramas genannt. Herrscher, nicht Tyrann. Ein Tyrann - da gaukelt einem das Kopfkino sogleich einen cholerischen, willkürlich seine Macht und Launen am Volk auslassenden Unterdrücker vor. Steven Scharf dagegen ist am Schauspielhaus Bochum alles andere als cholerisch. Ja, stolz tritt er auf, seiner Macht als König von Theben ist er bewusst, aber stets bleibt er kontrolliert und souverän. Sympathisch ist er nicht gerade; dazu wirkt er zu kalt. Aber ein bisschen von seiner Klarheit und Zielstrebigkeit könnte manchem unserer Politiker nicht schaden. Er weiß die erforderliche Unterwürfigkeit gegenüber der Priesterin und den Göttern mit dem Habitus des überlegenen Führers zu kombinieren und Härte in der Sache mit guten Umgangsformen. Formvollendet äußert er Kritik, lässt seinem Gegenüber dabei die Nase im Gesicht. Aber Gnade uns Gott, wenn einer von uns, den angesprochenen Untertanen im Parkett, nicht mit der Wahrheit herausrückt, wenn er weiß, wer damals, vor zwanzig Jahren, den thebanischen König Laios (und damit Ödipus‘ Vorgänger) getötet hat. Wer aber jetzt gesteht oder sagt, was er weiß, dem bietet Ödipus Zeugenschutz respektive eine Amnestie an - und dann wird er außer Landes gebracht.
Eine Blutschuld lastet auf Theben. Sie ist der Grund für die Pest, die die Stadt heimsucht, und sie muss gesühnt werden. Mit der Vermutung, dass der niemals aufgeklärte Tod des Laios die Ursache ist, ist Ödipus im Prinzip auf der richtigen Spur. Dass die Aufklärung des Verbrechens ihm, Ödipus, nicht guttun wird, will er nicht sehen. Dabei sind die Aussagen von Theiresias, dem blinden Mann, dem die Götter die Sehergabe verliehen haben, kaum zu missdeuten: „Der Missetäter und Beschmutzer unseres Landes bist du!“, macht Pierre Bokma im bauschigen schwarzen Rock dem König deutlich, und, als dieser immer noch nicht kapieren will: „Du bist des Mannes Mörder, den du suchen willst.“ - Was nicht sein darf, das nicht sein kann: Verärgert schickt Ödipus den blinden Seher fort. Er verschärft seine investigativen Bemühungen, setzt seine Frau Jokaste und seinen Schwager Kreon unter Druck. Ödipus verdrängt. Und spürt doch, wie ihm ganz, ganz langsam der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Der Boden, der sich dank Bernd Felders großartigem, edlem Lichtdesign blutrot färbt…
Es ist grandios, wie Steven Scharf das spielt, wie er um seine Souveränität ringt, um seine Deutungshoheit. Wie ganz, ganz langsam Ödipus' Fassade bröckelt. Selbstverständlich war schon der Machtmensch zu Beginn trotz allen staatstragenden Auftretens nicht ohne Emotion. Wenn er sich in Wut redete, blitzte seine Gefährlichkeit auf. Doch stets setzte er auf kontrollierte Offensive. Jetzt dagegen wird er mehr und mehr in die Defensive gedrängt: Er, der Agnostiker, der sich Göttern und Sehern überlegen glaubt, klammert sich an eine gewisse Arroganz: „Wenn die Götter meinen, dass es einen Seher braucht, werden sie uns das leicht wissen machen.“ Als ahne er nicht, dass genau das bevorsteht: Der Beweis, die Aufdeckung aller Geheimnisse um seine Herkunft und seine ihm unbewusste Schuld am Tod seines Vaters und Vorgängers. Als er beginnt zu begreifen, steht ihm der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Doch nach außen bleibt er ruhig. Es ist unfassbar, was Scharf gelingt: Im Zuschauer toben die gleichen widersprüchlichen Emotionen, die Ödipus in diesem Moment verarbeiten muss. Die Selbstkontrolle des Machtpolitikers legt sich eisig um des Zuschauers Herz, und gleichzeitig schnürt es ihm die Kehle zu im Wissen um dessen Schicksal und um die Kämpfe, die sich nun in ihm abspielen. Denn der Zuschauer spürt: Es ist nicht kühle Souveränität mehr, die aus Scharfs Selbstkontrolle spricht, sondern unterdrückte Emotionalität.
Und die Geschichte geht ja weiter: Die Nachricht, dass das Volk von Korinth ihn nach dem Tod seines (Zieh-)Vaters Polybos zum König ernennen will, beruhigt Ödipus nicht, sondern sie beunruhigt ihn eher. Man spürt, wie Scharfs Figur sich an positive Nachrichten klammert und gleichzeitig intuitiv weiß, dass ihn diese nicht entlasten werden. Bald wird er die ganze Wahrheit wissen, erkennen, dass er nicht nur seinen Vater getötet, sondern auch seine eigene Mutter geheiratet hat. Dem furiosen Angriff der Götter hält weder die kontrollierte Offensive noch die vorsichtige Defensive stand: Ödipus‘ Abwehr bricht zusammen. Schwer atmend liegt er am Boden. Lautsprecherverstärkt ertönen seine Atemgeräusche im gesamten Raum, kommen von allen Seiten des Parketts. Ödipus sticht sich die Augen aus. Wird zur brüllenden Bestie. Er fühlt sich nun auch verantwortlich für die Toten, die die Pest in Theben verursacht hat. Das ist pure Verzweiflung. Mit minimalen Veränderungen seiner Mimik und Gestik hat Steven Scharf seiner Figur eine maximale Entwicklung gegeben - eine schauspielerische Glanzleistung, wie man sie nur selten sieht.
Und doch: ist das nur eine Seite der Geschichte, die in Bochum erzählt wird. Denn die drei Damen, die den Sophokles-Text bearbeitet haben, setzen vor allem Jokaste ins rechte Licht - die Königin von Theben, die sie schon als Ehefrau des Laios gewesen war und als Ehefrau des Ödipus immer noch ist. Ödipus, der Herrscher? Der souveräne, staatstragend auftretende Machtpolitiker? Ja, diese Fassade hat die kluge Frau dem Mann gelassen. Doch die eigentliche souveräne Herrscherin ist sie, Jokaste. Elsie de Brauw ist eine elegante Erscheinung, die nicht nur ihre persönliche Macht, sondern auch ihre Verantwortung für die von der Seuche heimgesuchte Stadt im Fokus hat - „meine Stadt“, sagt sie, nicht „unsere Stadt“. Ihr langer Eingangsmonolog ist nicht minder souverän als der Auftritt ihres Mannes, vor allem aber dreht er sich nicht um ihre eigene Macht, sondern um das Wohl der Stadt. Um die Toten der Epidemie, die Unfruchtbarkeit der Pflanzen und Tiere. Die Eleganz ihrer Erscheinung strahlt ab auf die Stadt: Nadja Sophie Ellers Bühne ist ein nahezu abstraktes Kunstwerk, ganz in den Farben von de Brauws tollem Hosenanzug gehalten. Wenn Jokaste Zweifel an den Weissagungen des Thereisias äußert, wirkt sie überzeugender als ihr Mann. Ob sie selbst überzeugt ist? Sie dürfte sie längst wissen, was Ödipus noch verdrängt, doch staatspolitisch wichtig ist jetzt das Empowerment ihres Gatten. Schneller als Ödipus begreift sie, welche grausamen und inzestuösen Verbindungen die Götter geschaffen haben zwischen ihr und ihrem Mann und Sohn: „In Gottes Namen, wenn du das Leben liebst, dann suche hier nicht weiter“, versucht sie zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Doch als sie begreift, dass die Pest in Theben erst besiegt sein wird, wenn der Mörder von Laios identifiziert und hingerichtet ist, weiß sie sonnenklar, worum es geht: „Mein Mann oder meine Stadt - das ist jetzt die Entscheidung.“
Wie sie fällt, wie sie fallen muss, ist keine Frage. Nein, diese Frau wird sich nicht aus Schuldgefühl erhängen, wie der olle Sophokles es vorsah. Sie bleibt an der Macht und übernimmt Verantwortung für die Stadt. „Länger als Glück ist Zeit. Und länger als Unglück.“