Anatomie Titus Fall of Rome im Mönchengladbach, Theater

Und ewig dreht sich die Gewaltspirale

Ziemlich apokalyptisch wirkt schon die monologartige, in Mönchengladbach von den Schauspielern im Wechsel gesprochene rhythmische Eingangs-Sequenz des Stückes. „Ein neuer Sieg verwüstet Rom“. Die „Hauptstadt der Welt“ hat wieder einmal einen Krieg gewonnen, trotz der Dekadenz, die längst in der Stadt herrscht. An Würstchenbuden und im Bierzelt wartet das Volk auf seine lebenden und toten Helden. Doch die militärischen Siege drohen sich in Niederlagen zu verwandeln. In der Dekadenz der Stadt und in ihren Eroberungszügen liegt eine Gefahr: Teils freiwillig, weil angezogen vom Reichtum Roms, meist aber als Kriegsgefangene verschleppt überschwemmen immer mehr Migranten aus den besiegten Gebieten die Stadt. Den Gefangenen geht es an den Kragen: In den leeren Fußballstadien warten die Henker auf ihre Opfer, für die Bordelle und den Sklavenmarkt gibt es Nachschub an „Frischfleisch“.

Nach dem neuerlichen Sieg über die Barbaren bringt der Feldherr Titus Andronikus die Gotenkönigin Tamora samt ihren zwei Söhnen Demetrius und Chiron und ihrem Liebhaber Aaron in die Hauptstadt; den ältesten Sohn Tamoras, Alarbus, lässt er gemäß alter Sieger-Sitte auf brutale Weise töten. Der Kaiser ist tot; zwei Söhne kämpfen um seine Nachfolge, „der eine (Saturnin) mit dem Recht der Erstgeburt, der andere (Bassian) pocht auf sein Verdienst“. Saturnin wird zum Kaiser ernannt, Titus‘ Tochter Lavinia, ursprünglich als Kaiserin vorgesehen, heiratet dessen Bruder Bassian und Saturnin nimmt die Gotenkönigin zur Frau, die damit Kaiserin von Rom wird und die Möglichkeit zur Rache für den Tod ihres Erstgeborenen sieht. Eine unfassbar brutale Folge von Morden, Verstümmelungen und Vergewaltigungen kommt in Gang, ein manchmal nur noch schwer zu durchschauendes Spiel von Rache und Intrigen, das sich teilweise an den schlimmsten Verbrechen der griechischen Mythologie bedient (so werden Tamora ihre beiden verbliebenen Söhne Demetrius und Chiron, die Lavinia vergewaltigt und ihr anschießend die Zunge herausgeschnitten haben, als Pastete zum Mahl vorgesetzt – man erinnert sich an Atreus, der seinem Bruder Thyestes dessen Kinder als leckeres Steak serviert). Der Einzige, der das Gemetzel überleben wird, ist Titus‘ Sohn Lucius.

Abgeschlagene Köpfe, herausgerissene Zungen, abgehackte Hände – William Shakespeares Titus Andronicus gilt als das blutrünstigste und grausamste, allerdings keineswegs als das beste Stück des Meisters. Es bestehen sogar Zweifel daran, ob der Text tatsächlich aus der Feder des Mannes aus Stratford-upon-Avon stammt. Anatomie Titus Fall of Rome, Heiner Müllers Überschreibung aus den Jahren 1983/84, scheint die Gewalt noch einmal zu steigern, wobei Müllers Sprache mit ihrem gebrochenen Pathos und ihrem oft raunenden Klang der des frühen Shakespeare überlegen scheint. Im Vergleich zu Shakespeare baut Müller ganze Dialog-Passagen um; in Teilen verändert er auch die Profile der Figuren. Vor allem aber fügen die eingearbeiteten eigenen Texte Müllers dem Shakespeare’schen Original Mehrwert zu. „Ein Shakespeare-Kommentar“ lautet der Untertitel seiner Überschreibung, und tatsächlich lassen sich die kommentierenden Müller-Texte auch als Kommentare zur Gegenwart lesen. Für Müllers Geschichtspessimismus muss die ewig sich drehende Gewaltspirale der Handlung ein gefundenes Fressen gewesen sein: Gewalt gebiert Gewalt, und um eine Gewaltherrschaft zu beenden, bedarf es weiterer Gewalt. Weder bei Shakespeare noch bei Müller gibt es irgendwelche anderen Ansätze: An die Macht der Diplomatie und des Verhandlungsgeschicks glaubt niemand, allenfalls (wenn der schwarze Jude Aaron die verstümmelte Lavinia als Leidensgenossin im Hinblick auf die Diskriminierung durch die Gesellschaft erkennt und sie rettet) an die Solidarität der Ausgegrenzten und Verlierer. Müllers in großartige Sprachbilder gekleideter Zynismus erreicht ungeahnte Höhen.

Zielte Müller zur Entstehungszeit des Stückes auf die Parallelen zwischen dem Alten Rom und der Dekadenz der westlichen Welt und erinnerten beispielsweise die Fußballstadien als Orte der Erschießung von Gefangenen an lateinamerikanische Diktaturen der 1980er Jahre, so hat die libanesische Regisseurin Maya Zbib bei ihrer Inszenierung für die Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach auch die Situation in ihrer Heimatregion im Hinterkopf, auch wenn das in der Aufführung, die jetzt am Theater Mönchengladbach zur Premiere kam, nicht explizit zum Ausdruck kommt. Die Bilder der geköpften Opfer des IS, die Machtkämpfe und blutigen Auseinandersetzungen der Warlords in den failed states Arabiens weichen jedoch von denen aus Müllers Anatomie Titus nur unwesentlich ab.
Zehn Birkenstämme verteilen sich über die Bühne von Caspar Pichner – vielleicht das Sinnbild für die Naturverbundenheit der besiegten, aber mobilen Goten, die das statisch gewordene, saturierte Rom angreifen werden - „die Städte stehen, doch die Goten reiten“, heißt es drohend in einer in Mönchengladbach nicht genutzten Passage des Stücks. Dialoge sind eher selten; die Brutalitäten werden kaum gezeigt und spielen sich meist im Off - respektive in einer Mauerschau - ab. Die Handlung wird oftmals nur angedeutet durch kurze, fast choreografisch anmutende Bewegungen (drei Sekunden Tanz, zwei Sekunden Kopulation etc.). Müllers Sprache ist suggestiv genug, um die brutalen Vorgänge sowie die pessimistische Weltsicht des Autors zu verdeutlichen. Aktuelle Assoziationen werden geweckt – wir erwähnten bereits die Brutalitäten des IS. Rassismus und Frauenhass werden angesprochen, und wenn die Mörder respektive Vergewaltiger herumlungern wie Schläger an einer Straßenbahnhaltestelle, denkt man an ganz alltägliche echte oder empfundene Bedrohungsszenarien.

Aber in Mönchengladbach wechseln sich wechseln sich großartige dunkle Szenen mit fast ins Lächerliche verrutschenden Momenten ab. Mattea Cavic als Lavinia, die einerseits mit der pathosgetränkten Sprache Müllers die meisten Schwierigkeiten hat, demonstriert andererseits auch durch ihr Spiel das Leiden ihrer Figur offensiv und mit großer Suggestionskraft. Müllers herausragende, oftmals auch zynische Sprache, die vor allem in den von Eva Spott gesprochenen Exkursen und Kommentar-Szenen zum Klingen kommt, lässt das Grauen vor dem geistigen Auge des Zuschauers lebendig werden, schafft durch die permanente Überhöhung und Rhythmisierung jedoch eine Distanz, die das Ganze erträglich macht. Die meist unaufdringliche Musik von Layale Chaker verschafft der Sprache zusätzliche atmosphärische Wirkungsmacht. Und doch: Immer wieder (vor allem in den Momenten, in denen eine szenische Umsetzung des Texts versucht wird) beginnt das Premierenpublikum zu kichern oder gar laut zu lachen. Erkennbar glauben Teile der Zuschauer sich in ein Splattermovie versetzt – ein krasses Missverständnis, dessen Ursache nicht nur in der allzu übertriebenen Ausgestaltung von Gewaltszenen bei Shakespeare und Müller, sondern auch in der Umsetzung durch Teile des Schauspieler-Teams zu suchen sein dürfte. Doch in solchen Fällen hat Eva Spott flugs ein Stück düsterer Müller-Lyrik zur Hand und führt die Aufführung wieder in die Apokalypse. Sie ist in der Dreifach-Rolle als Kommentatorin, Aaron und Bassian die großartige, überzeugende Anchor Person des Abends. Und so bleibt unter dem Strich ein eindrucksvolles Erlebnis und die Dankbarkeit, dieses selten gespielte Stück wieder einmal auf nordrhein-westfälischen Bühnen erleben zu dürfen.