Von Klischees und Vorurteilen
„Auf offenem Feld ausbleichende Knochen“ bestimmen das Bühnenbild im Theater an der Ruhr. „Männer (wurden) niedergestreckt … auf der Flucht“ nach der Varusschlacht im Teutoburger Wald. Die Schlacht im Jahre 9 n. Chr. war eine traumatische Erfahrung für die frech gewordenen Römer. In einem zeitlupenartig verlangsamten Film sieht man, wie Gabriella Weber, Dagmar Geppert und andere dem Kaiser Augustus (Klaus Herzog) in einer weihevollen Zeremonie den Kopf des unterlegenen Feldherrn Varus überreichen, der sich nach verlorener Schlacht und völliger Vernichtung seiner drei Legionen das Leben genommen hatte. „Varus, gib‘ mir meine Legionen wieder“, soll Augustus der Überlieferung nach ausgerufen haben. Ein Ruf, der wohl weniger das Mitleid mit den toten Soldaten als vielmehr den Wunsch nach neuem Blutvergießen ausdrückte…
Die Knochen auf offenem Feld mögen den archäologischen Bemühungen der Forscher geschuldet sein; vielleicht sind sie aber auch so etwas wie ein Vanitas-Symbol und versinnbildlichen nicht nur die Vergeblichkeit des Krieges und die Vergänglichkeit der Krieger respektive der Reiche, für die sie kämpfen, sondern die Nutzlosigkeit jeder Feindschaft und jedes Fremdenhasses. Gramgebeugt wandert Simone Thoma durch die Hinterlassenschaften des Schlachtfeldes und reflektiert über die Gräuel des Krieges. Auch Thoma hat etwas Weihevolles; das tragische Timbre in ihrer Stimme ist wie so oft ein wenig manieristisch, aber es passt zur Antike, aus der heraus die Aufführung entwickelt wird. Am Theater des italienischen Germanen Roberto Ciulli decken der Prinzipal sowie der italienische Regisseur Simone Derai die lange Tradition der Fremdheit und die Hürden, die ihrer Überwindung im Wege stehen, auf, und sie beginnen damit bei dem römischen Historiker Tacitus.
Die Betrachtungen des Tacitus über das Volk der Germanen scheinen sowohl das Trauma der römischen Niederlage als auch die Unausweichlichkeit weiteren Blutvergießens zu bezeugen. So detailliert wie vorurteilsbeladen beschreibt Tacitus das Land der Germanen und seine Bewohner. In dem gefährlichen Volk im Norden sieht er Barbaren, „mehr Tier als Mensch“, stur, ungebildet, rau, aber auch mutig, tapfer, naturverbunden und unverdorben. Die Germanen seien ihren Frauen treu ergeben (von Keuschheit und Sittlichkeit ist gar die Rede), aber auch ein Volk mit einer fatalen Neigung zum Würfelspiel, das, wie es später der „Germane“ Bernhard Glose bitter zitiert, „seinen Kummer in Bier ersäuft“. Fesselnd trägt Marco Menegoni, der einzige Schauspieler aus dem italienischen Theaterlabor ANAGOOR des Regisseurs Simone Derai, der das Ensemble des Theaters an der Ruhr ergänzt, den Text vor. Dieser wirkt aufgrund des Vortrags und des begleitenden Sounds von Mauro Martinuz recht sprachmächtig, wiewohl Thoma „das Fehlen von Adjektiven und Gerundien“ bemängelt. Er hat eine durchaus aggressive Note, und der düstere, bedrohliche Sound von Mauro Martinuz wird zur kongenialen Untermalung der Begriffe von Folter und Feindschaft, von Blut und Tod. Arroganz spricht aus den Worten des Geschichtsschreibers, aber auch Furcht, Abscheu und Hochachtung. Die schon ein wenig dekadenten Römer, die zu Zeiten von Tacitus auf dem Höhepunkt ihrer Macht und ihres Wohlstands standen, und die ungehobelten Germanen – das war für den Römer der Gegensatz zwischen raffiniertem Großstadttreiben und Kleie an den Füßen, zwischen dem Glauben an eine komplexe Götterwelt und dem Aberglauben von Geistern und Fabelwesen. Nicht von ungefähr trägt Menegoni seinen Text in Stoffhose und Pullover vor, während Bernhard Glose als Germane mit nacktem, grün angemaltem Oberkörper und Fell dasitzt, seinen Monolog jedoch melancholischer, trauriger spricht. Schmunzeln muss man, wenn man die Überlegung des Tacitus hört, dass es nur den Römern gelingen könne, den Germanen endlich Ordnung zu bringen. Heute hören sich die landläufigen Vorurteile genau umgekehrt an.
Die Vorteile einer Multikulturalität waren Tacitus so fremd wie Gauland und Höcke. In die Beschreibung der Stärken und Schwächen des germanischen Stammes mischt sich Angst: „weil sie so viele sind, die die Grenzen überschwemmen.“ Da klingt der alte Text ganz aktuell. In die Neuzeit wendet sich die Aufführung, als der 87jährige Roberto Ciulli die Bühne betritt. Germania heißt auch sein Text – weich ausgesprochen, italienisch: „In Germania, a Francoforte…“ beginnt er und erzählt die Geschichte der Gastarbeiter aus Kalabrien, die in den 1960er Jahren in Deutschland aufschlugen, von „Lohnstrafen“, die sie erhielten, und von dem Arbeiter, der glaubte, zu wenig Geld in seiner Lohntüte zu finden. Der Kassierer an der Zahlstelle versucht dem des Deutschen nicht Mächtigen den Unterschied zwischen Brutto und Netto zu erklären: „Brutto“, wiederholt er immer wieder. „Brutto“ aber heißt auf Italienisch „Hässlich“ – kann es sein, dass man im Ausland weniger Geld verdient, wenn man hässlich ist, fragt sich der Mann aus Kalabrien.
Vordergründig ist das eine lustige Anekdote. Wenn man über ihre Wirkung auf den italienischen Gast nachdenkt, ist der Witz weniger zum Lachen. Ciulli, der seit 1965 in Deutschland lebt, erzählt von eigenen Erfahrungen: er berichtet von seiner Scham angesichts mangelnder Sprachkenntnisse, vom Spott der deutschen Kollegen. Da er Akzeptanz nur dann fand, wenn er die Klischees bediente, Lieder sang, die man von einem Italiener erwartete, schmetterte er „O sole mio“. Im Theater gab man ihm zu verstehen, er solle sich von deutschen Klassikern fernhalten und das inszenieren, was er aus einer Heimat kenne: Goldoni, die Commedia dell’arte. … - dem Italiener wurde der Pantalone zugewiesen. (Erfreulicherweise hat sich Ciulli nie an diesen Rat gehalten und uns mit großartigen, oft eigenwilligen Interpretationen der gesamten dramatischen Weltliteratur erfreut.) „Ein Produkt von Klischees und Vorurteilen“ habe man aus ihm machen wollen, berichtet Ciulli – und genau das ist streng genommen auch der Text von Tacitus. Heute spricht man in solchen Fällen schnell von Rassismus.
Aber man muss nicht immer die große Keule herausholen: „Klischees und Vorurteile“ tut es auch. Um ihnen zu begegnen, ist es wichtig, die jeweilige fremde Sprache zu beherrschen – das wird indirekt schon in den Texten des Tacitus deutlich, die bei allem Bemühen um Objektivität von einer gewissen Verständnislosigkeit gegenüber der fremden Kultur geprägt sind, und mehr noch wird es deutlich in den Anekdoten des Roberto Ciulli. Ciulli erinnert sich, wie Schwierigkeiten mit der Sprache das Gefühl der Fremdheit verstärken und Scham auslösen. Er beschreibt anhand von Jean-Luc Nancys autobiographisch-philosophischem Text „Der Eindringling. Das fremde Herz“, in dem es vordergründig um ein neues Lebens-, Körper- und Fremdheitsgefühl nach einer Herztransplantation geht, wie durch Akzeptanz des „Fremden“ in sich selbst eine Integration und die Vermeidung von Furcht und Hass gelingen kann. Marco Menegoni und Bernhard Glose zeigen, wie’s geht: Menegoni, der anfangs seinen Text auf Italienisch vorgetragen hatte, übersetzt nun einen von dem Deutschen Glose auf Lateinisch gesprochenen Text ins Deutsche. Beide sind in der fremden Sprache erkennbar gut zu Hause. Hass und Verbitterung sind einer produktiven Zusammenarbeit gewichen. Verständnis statt Abgrenzung, Multikulturalität statt Identitätspolitik – auch so könnte man das übersetzen.
Ein kurzer Film beendet die neunzigminütige Aufführung. Er zeigt fallende Blätter, pilzbefallene Bäume, spielende Kinder im Teutoburger Wald. Kurz flackern Bilder des Germanen auf. Die Kinder werden immer mehr, sie klettern, werfen Steine. Hunde kämpfen miteinander. Alles bleibt in einer labilen Balance zwischen Harmonie und Unglück, zwischen Spiel und Kampf. Die anspruchsvolle, zum Nachdenken zwingende Inszenierung entlässt uns nicht mit einfachen Lösungen.