Lila leuchtet der Stubentiger
Über Leben? Überleben! Annalena und Konstantin Küspert widmen sich in ihrer dritten Auftragsarbeit für das Theater Münster der Frage nach Möglichkeiten des Überdauerns in kritischen Phasen des Lebens: sei des des einzelnen Wesens, von ganzen Generationen oder auch schlicht der ganzen Menschheit. Für erfolgreiche Exit-Strategien ist Tatkraft gefragt, manchmal auch Bauernschläue oder nur einfach Riesenglück.
In einer Revue aus vielen kleinen Szenen setzen Autorin und Autor dem Willen, einen Ausweg zu finden, ein Denkmal. Und es ist gerade die Vielfalt der Betrachtungsweise des Themas, die den Theaterabend zu einem absolut runden Ding werden lassen. Denn irgendwann beginnt es in den Köpfen des Publikums zu arbeiten: „Das habe ich doch auch schon mal so ähnlich erlebt und das war absolut peinlich“, „die Endlagersuche muss endlich angegangen werden, wird aber zu nichts führen“ oder „äußere Geschlechtsorgane laut beim Namen zu nennen, ist wirklich ein wenig peinlich“. Unterschiedlichstes lassen Küsperts auf ihr Publikum einprasseln und irgendwann treffen sie alle Zuschauenden und lassen deren Gehirne routieren. Sprachlich pointiert und öfter improvisierte Situationskomik suggerierend, entsteht wegen des Textes die Atmosphäre eines Comedy-Programms in einem kleinen Club.
Marina Stefan unterstützt diesen Gedanken mit ihrer Bühne, indem sie das Kleine Haus des Theaters Münster völlig umbaut. Da ist keine Bühne mehr. Am Rand gibt es ein Band kleiner Segmente, die sich zusammenfügen zu einer Filmrolle des „vordigitalen“ Zeitalters. In diesen Segmenten wird gespielt und auch auf einer großen freie Fläche davor - direkt vor dem Publikum. Gerade das schafft Raum für das unmittelbare Erleben.
Anna Buffetrille und Hanna Peter stecken die Agierenden in fleischfarbene Kostüme, die sie wie Eier wirken lassen. Diese Neutralität bietet Regisseur Ronny Jakubaschk Gelegenheit, sie in den vielen Szenen individuell zu zeichnen. Und Regine Andratschke, Marlene Goksch, Ilja Harjes, Julian Karl Kluge und Ulrike Knobloch nutzen es perfekt, sich in rasender Geschwindigkeit zu verwandeln und eine neue „Überlebenssituation“ zu kreieren. Den Spaß an den Entfaltungsmöglichkeiten merkt man in jeder Minute dieses Abends. Und alle Schauspieler*innen können am besten mit den Attribut „lustvoll“ gekennzeichnet werden. Sie füllen jede Szene mit Lust und Emphatie.
Jetzt möchten Sie wissen, was inhaltlich in Über Leben geschieht. Glauben Sie mir, wenn ich das hier verraten würde, wäre das sehr schade. Schauen Sie es sich besser selbst an.
Okay - ein paar Andeutungen können schon gemacht werden. Es geht um einfache Dinge wie Flugangst oder die Frage, was zu tun ist, wenn man einem Grizzly begegnet. Es geht auch um die Gedanken des Stehgeigers auf der Titanic oder die des Hitler-Attentäters Georg Elsner.
Und es geht darum, was zu tun ist mit der auf fast ewig währenden Gefahr durch radioaktiven Müll. Wie warnt man nachfolgende Generationen davor, auch wenn das Bewusstsein für Atomkraft längst verschwunden ist? Annalena und Konstantin Küspert haben sich folgendes ausgedacht: Auch in ferner Zukunft werden Menschen noch Katzen als Haustiere haben. Also könnte man deren Genetik so manipulieren, dass sie bei Kontakt mit radioaktiven Material als Warnung leuchten. In Über Leben zeigen sie gleich selbst: Das war keine wirklich gute Idee.
Zwischen lautem Lachen und ziemlicher Beklommenheit ist Über Leben ein wirklich schöner Theaterabend, der fordert, aber auch einfach unterhält.