Übrigens …

Der Zauberberg im Theater Duisburg

Am Ende sagt man Leben dazu

Endlich hebt sich die schwarze Brandwand. Dahinter quer über die Bühnenmitte ein weiteres Ungetüm: dunkelgraue Metallfässer, fast bis zur Bühnendecke gestapelt. Stille.

Dann bricht die Wand krachend zusammen, die Fässer rollen dröhnend bis an den Bühnenrand, einige darüber hinaus. Ein riesiges Stahlgerüst wird freigelegt. Nur vereinzelt, auf fünf Etagen verteilt, bleiben sieben Fässer liegen. Eine Mannschaft in weißen Schutzanzügen mit medizinischen Mund-Nasen-Masken macht sich über das Chaos her, räumt einen Teil der Fässer beiseite - unweigerlich assoziiert man gefährlichen Giftmüll. Außer dem Gepolter der Räumaktion kein Geräusch: kein Wort, keine Musik.

Dann, nach etwa sieben Minuten schweigender Arbeit am Boden, ein gellender Sirenenton: sieben der Gestalten – drei Frauen und vier Männer - steigen aus ihren Anzügen, legen die Masken ab und verteilen sich auf den Stufen des Stahlgestells, setzen sich auf die Fässer oder hantieren damit. Das Gerüst, das ursprünglich für den ausgefallenen KING LEAR entworfen wurde, wird zum BERGHOF, dem Sanatorium hoch oben in den Schweizer Bergen.

Auf der obersten Stufe nimmt Kriemhild Hamann in der Rolle der Clawdia Cauchat an einer Harfe Platz und beginnt zu spielen. Ein Einstieg, der gleich ein doppelter Hinweis auf Thomas Manns Zauberberg ist: zum einen (für Kenner des Romans) auf die Szene, in der Hans Castorp, der Held der Geschichte, in gleicher Heftigkeit für die Russin Clawdia Cauchat wie für die gemeinsam gehörte Musik Debussys „entflammt “. Es war für den nüchternen norddeutschen Ingenieur „ein flüchtiger Augenblick, dessen wonnevoll-vollkommenes Genügen die Ewigkeit in sich trug“. Zum anderen erinnert der musikalische Einstieg an eine Äußerung Thomas Manns vor Studenten in Princeton, bei der er zur Einführung in den Zauberberg den gesamten Roman als musikalisches Werk bezeichnet: „Dichter sind meistens, ‚eigentlich‘ etwas anderes. Was mich betrifft, muss ich mich zu den Musikern unter den Dichtern rechnen. Dieser Roman war mir immer eine Symphonie.“ (Ein Auszug aus der Rede ist im Programmheft abgedruckt.)

Ähnliche verbale wie nonverbale Hinweise auf die Vorlage geben nicht nur Stephan Bachmann und Carmen Wolfram in ihrer Adaption des Tausend-Seiten-Romans, sondern auch die Regisseurin Daniela Löffler. Zweifellos soll die ungewöhnlich lange Schweigephase zu Beginn der Aufführung auch dem Publikum ein Gefühl für den scheinbaren „Stillstand der Zeit“, das relative Zeitempfinden vermitteln, das in der hermetischen Welt des Sanatoriums zum Grunderlebnis wird und sich als wichtiges Motiv durch Roman und Stück zieht. Ausführlich diskutieren die Patienten den Zeitbegriff sowie Zeiterfahrung und Messbarkeit. Daran arbeiten sich vor allem die Kontrahenten Leo Naphta und Settembrini ab. Und da sind wir schon beim nächsten – im Stück eher versteckten - Leitmotiv: der Märchenzahl sieben, die sich unter anderem im Namen Settembrini auf Italienisch versteckt. Außerdem ermahnen sich die sieben Patienten gleich in den ersten Szenen, das Fieberthermometer genau sieben Minuten im Mund zu halten. Und am Ende werden aus dem geplanten dreiwöchigen Aufenthalt des Protagonisten sieben Jahre. Auf ein weiteres Leitmotiv des Romans, die homoerotische Erinnerung an eine Schülerliebe Castorps, verweist ein demonstrativer Kuss der Männer Settembrini und Castorp.

Während die sieben Kapitel des Romans sich fast ausschließlich in der hermetisch abgeschlossenen Welt des Sanatoriums oben auf dem Berg abspielen, die auch den Neuankömmling Hans Castorp entgegen seiner immer wiederholten Behauptung, er sei Besucher und nicht Patient, in ihren Sog zieht, bricht die Spielfassung die einspinnende Macht der Kasernierung auf, indem sie aktuelle Texte der Autorin Sibylle Berg einfügt und in ihnen das Unten, den Alltag der Menschen aus dem Unterdorf, in die Handlung einflicht. Da erscheinen ganz bodenständige Typen unten auf der Bühne und berichten von ihren Alltagssorgen. Ein Bauer beklagt die Schweineseuche, ein anderer die Überarbeitung im Stall. Es sind Texte aus dem Stück ENDE GUT (2004), das vor dem Hintergrund einer Pandemie spielt. Die vorgebrachten Klagen der Kleinen-Leute nennt Sibylle Berg O-Töne. Schon an ihrer Arbeitskleidung erkennt man, dass sie mit den Extravaganten da oben nichts gemein haben.

Denn da oben – ganz wörtlich im Stahlgerüst - hat sich eine weltfremde Gesellschaft etabliert, die den Bezug zum politischen Geschehen verloren hat. Zwischen der Monotonie der täglichen Heilbehandlungen werden rein theoretische Diskurse geführt, die auch einmal zum Duell führen können. Es werden existenzielle Fragen des Lebens und Sterbens oder zu Körper und Geist gestellt und oft unbeantwortet gelassen. Dazwischen Hustenanfälle im Zigarettenqualm, auch mal ein Blutsturz. Der Halb-Tote bleibt im Rollstuhl auf der Bühne.

Irgendwann kommt Hans Castorp, ein schlaksiger junger Mann mit Pferdeschwänzchen und engen Jeans aus dem Zuschauerraum auf die Bühne gesprungen (überzeugend, Philipp Grimm), um seinen deprimierten Cousin Joachim Ziemsen (als braver Soldat, Simon Werdelis) für drei Wochen zu besuchen. Doch eingelullt von der Atmosphäre und verzaubert von seiner Liebe zur schönen Russin Clawdia verliert er seinen Elan und jedes Gefühl für die vergehende Zeit. Er bleibt und resümiert: Am Ende sagt man Leben dazu.

Doch die Regie hat noch zwei dramatische Szenen für ihn parat. Zunächst gelingt es ihm nach der Faschingsfeier (im Roman: Walpurgisnacht) Clawdia Cauchat für einen Liebesakt zu gewinnen. Während Joachim die von Thomas Mann dem Cousin Hans zugedachten Liebesschwüre rezitiert, wälzen sich die Liebenden im Kampf mit einer schnell zerrissenen Plastik-Plane stöhnend dem Orgasmus entgegen. (Im Roman wird Castorp nur am Ende der Feier von Clawdia gebeten, einen entliehenen Bleistift zurückzubringen.)

Eindrucksvoll setzt Daniela Löffler später die lebensbedrohliche Verirrung Hans Castorps im Schneesturm ins Bild: Mit äußerster Kraft dreht Castorp das Stahlgerüst, aus dessen Gestänge jetzt Neonröhren ein gespenstiges Weißlicht auf umherwirbelnde Schneeflocken werfen. Völlig entkräftet, den Elementen schutzlos ausgeliefert, entkleidet sich Castorp, reibt den nackten Körper mit Eiswürfeln ein und entkommt dem Tod durch die Erkenntnis, dass der Mensch um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen soll.

Der aktualisierte Zauberberg endet in Duisburg mit einem weiteren Text von Sibylle Berg, in dem Europa als Patient auf die Couch gelegt wird (Spiegel-Kolumne vom 9.5. 2020). Diverse Todesarten werden durchdekliniert und enden mit dem „totalen Tod, dem Krieg“.

Ein anspruchsvoller Theaterabend, der dem Publikum in fast zwei Stunden Mitdenken und Geduld abverlangt, der versucht, die von Thomas Mann aufgeworfenen großen, existentiellen und philosophischen Fragen mit Problemen des Heute zu konfrontieren. Er bringt zwei Welten auf die Bühne, ohne dass sie sich wirklich berühren, ohne dass sie in einen Dialog treten. Dabei wird der Romantext allerdings auf ein solches Minimum reduziert, dass vom Mann‘schen Zauberberg nur noch ein Entwurf und manche Andeutung übrigbleiben.

Enttäuschend ist, dass die einzelnen Charaktere völlig unscharf bleiben. So fehlt dem Settembrini der Aufführung jede intellektuelle Brisanz. In keiner Szene erinnert Matthias Reichwein in seiner Rolle an den Humanisten des Romans, der nicht aufhört, sich zum aufklärerischen Mentor des unbedarften jungen Ingenieurs Hans Castorf zu machen. Und auch sein intellektueller Gegenspieler, der sophistischer Logik anhängende Dr. Leo Naphta (Raiko Küster), gewinnt im Stück keinerlei Kontur. Der dümmlichen Karoline Stöhr (Viola Pobitschka) , die im Roman jedes Fremdwort verfälscht, hat man all die kurios verhunzten Wörter gestrichen und ihr damit alle Komik genommen, so dass nur der Name und die 28 (4x7!) Soßenrezepte an die Romanfigur erinnern. Durch die Austauschbarkeit der Figuren verlieren leider auch Diskurs und Plausibilität an Kraft.

Das Publikum, das zur Eröffnung des Duisburger Theatertreffens gekommen war, dankte mit anhaltendem Applaus.