Übrigens …

Orlando im Theater Duisburg / Düsseldorfer Schauspielhaus

Woolfs „Orlando“ – ein Stoff der Stunde?

Kathrin Sievers lässt ihre Inszenierung am Theater Duisburg mit einer unwiderlegbaren zeitlichen Einordnung enden: „Heute ist der 13. Februar 2022.“Orlando, 1570 geboren, lebt immer noch, jung, hübsch und charmant wie eh und je. Genau genommen scheint Orlando im Jahre 2022 sogar frischer als je zuvor zu sein: In Zeiten permanenter Diskussionen um sexuelle Diversität und non-binäre Geschlechterrollen ist Virginia Woolfs Roman aus dem Jahre 1928 so etwas wie der Stoff der Stunde. Kein Wunder, dass gerade die Theater darauf stoßen: Zu Spielzeitbeginn inszenierte Lucia Bihler den Roman am Schauspiel Köln mit den Ensemble-Mitgliedern Katharina Schmalenberg und Yuri Englert sowie fünf Tänzerinnen und Tänzern des Ballet of Difference; jetzt folgen im Abstand von nur elf Tagen die Premieren am Theater Duisburg und am Düsseldorfer Schauspielhaus. Beide bieten mehr originäre Schauspieler auf und erzählen die sich über mehr als drei Jahrhunderte erstreckende Handlung in verschiedenen Episoden nach; André Kaczmarzcyk bietet in Düsseldorf ebenfalls drei Tänzerinnen und Tänzer auf, die er beim Studiengang Physical Theatre an der Folkwang Universität der Künste rekrutiert hat. Was Martin Krumbholz bei nachtkritik.de über die Kölner Aufführung schreibt, gilt auch für die beiden Fassungen wenige Kilometer rheinabwärts: „Erstaunlich brav folgt die Dramaturgie des Abends dem Plot des Buchs.“

Wir schreiben die Tudor-Zeit, als Orlando das Licht der Welt erblickt, das für ihn nie wieder erlöschen wird. Der junge Lord ist gebildet, charmant, abenteuerlustig und kunstsinnig. Er ist, wie es in Duisburg heißt, „Liebhaber von Gartenblumen und Unkraut“ – und das auch im übertragenen Sinne: Denn Orlando liebt die Liebe und bändelt an, mit wem immer es sich anzubändeln lohnt. Im Rahmen seiner 350 Jahre langen Lebensreise heißt das: mit Seeleuten, Huren, einer Tänzerin und merkwürdigen osteuropäischen Adligen. Auch Königin Elisabeth I. ist fasziniert: Sie ernennt ihn zum Schatzmeister und Seneschall, schenkt ihm einen Landsitz und bittet ihn, niemals alt zu werden, was, wie eingangs erwähnt, ihm mehr als 350 Jahre lang spielend gelingt. Am Hof von König James trifft er die geheimnisvolle russische Gräfin Sascha und hat mit ihr eine heftige Affäre, bevor sie ihn für einen Seemann verlässt. Er zieht sich aufs Land zurück, gibt seinen Neigungen als Schriftsteller nach und trifft einige der bedeutenden Schreiberlinge seiner Zeit, wobei ausgerechnet der verehrte Nicholas Greene ihn und seine schriftstellerischen Versuche der Lächerlichkeit preisgibt. Lächerlich, aber hartnäckig hinter Orlando her ist die Erzherzogin Harriet von Finster-Aarhorn und Scand-op-Boom – die Dame, die später ein Mann sein wird, ist exakt die absurde Figur, die ihr Name nahelegt. Orlando flieht vor ihren Nachstellungen, indem er sich (inzwischen ist King Charles auf dem Thron) zum Gesandten der britischen Krone in Konstantinopel ernennen lässt. Dort heiratet er die Tänzerin Rosina Pepita, die nach einem Tag der Ehe in Trance fällt. Und siehe da: Auch Orlando dämmert nach einem nächtlichen Aufstand der Türken gegen den Sultan davon: Nach einem siebentägigen Schlaf wacht er als Frau wieder auf.

m Hinblick auf seine Identität und seinen Charakter scheint Orlando kaum verändert. Dennoch weist der Düsseldorfer Regisseur André Kaczmarczyk in einem Interview mit dem WDR zu Recht darauf hin, dass Orlando trotz des Wechsels seines Geschlechts und seiner anschließend kaum veränderten Persönlichkeit keineswegs eine non-binäre Figur sei: Aus einem heterosexuellen, dem Liebesleben mit dem anderen Geschlecht äußerst zugetanen Mann ist eine heterosexuelle, dem Liebesleben mit dem anderen Geschlecht äußerst zugetane Frau geworden. Doch Orlando „begreift erst als Frau, wie die Welt zusammenhängt“, wie es in Duisburg heißt: Die junge Dame erlebt nach ihrer Rückkehr nach England den Umgang der Männer mit dem weiblichen Geschlecht. Vordergründig galant, betrachten sie die Frau als Besitztum, Schmuck oder "wunderschönes romantisches Tier". Orlando erkennt die Geschlechterdiskriminierung, versteht sich aber durchzusetzen.

Aus Nick Greene, dem Dichter des 17. Jahrhunderts, ist nun ein viktorianischer Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts geworden, der sich in herablassenden Bemerkungen gegenüber weiblicher Dichtkunst gefällt und dabei glaubt, charmant zu sein. Immerhin verhilft er Orlando zur Publikation ihres Buches. Erzherzogin Harriet ist zu Erzherzog Harry mutiert: Harry/ett passt sich an die neuen geschlechtlichen Gegebenheiten an – das Wichtigste scheint die Möglichkeit einer heterosexuellen Beziehung zu Orlando zu sein. Orlando aber hat nun den Wunsch, in den Hafen der Ehe einzulaufen – wer könnte besser dazu geeignet sein als ein Seemann? Wie einst Sascha mit einem russischen Seemann durchbrannte, heiratet Orlando den Kapitän Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, und da der ständig um Kap Hoorn cruist, muss sie ihr Leben nicht sonderlich ändern. Wir sind im 20. Jahrhundert angelangt, und Orlando fährt nun Auto.

Die Zusammenfassung ist ein bisschen langatmig? Jau. Obwohl der Roman nach landläufiger Meinung zu den vergnüglichsten Werken der anspruchsvollen Autorin zählt, zieht sich die Handlung sowohl in Duisburg als auch in Düsseldorf lange hin, bis sie nach der sexuellen Transformation der Hauptfigur endlich Drive bekommt. Nicht dass es zuvor nicht einige großartige szenische Miniaturen gäbe: „Orlando“ ist ein wunderbar ironisches Gesellschaftsporträt. Vom elisabethanischen Zeitalter bis in die 1920er Jahre werden die jeweiligen Konventionen der britischen Society und ihre Prominenz durch den Kakao gezogen. Vor allem aber ist Virginia Woolfs „literarische Eskapade“, wie sie ihren Roman selbst nannte, eine der Ikonen der frühen feministischen Literatur. Mehr noch als Kathrin Sievers in Duisburg spielt André Kaczmarczyk in Düsseldorf genüsslich mit der Verwirrung der Geschlechter. Rainer Philippi gibt nicht nur eine etwas bauerntheaterhafte Haushälterin Mrs. Grimsditch, sondern vor allem eine großartige, pompöse Königin Elisabeth mit Hochfrisur und ausladendem schwarzem Kleid, fast schon eine Drag Queen voller ironischer Manieriertheiten, und jedem weiblichem Klischee entsprechend erscheint er zu seinem ersten Auftritt aus dem Rahmen eines barocken Spiegels. Auch in Duisburg wird Elisabeth von einem Mann gespielt: Adrian Hildebrandt, auch er in riesenhaftem Reifrock, mit dreistöckiger Krone, aber etwas dümmlichem Lächeln, schwebt auf Rollschuhen herein und ist eine so pompöse Gestalt, dass Orlando sich schüchtern unter den Rock der Königin verkriecht, von wo er später mit einem Bauernmädchen wieder auftaucht. Mehdi Moinzadeh (eine große komödiantische Nummer!) als äußerst genderfluide Herzogin Harriet respektive tuntenhafter Herzog Harry, Cathleen Baumann als manierierte, im Hinblick auf ihr Geschlecht ebenfalls schwer festzulegende Sascha sind weitere Beispiele aus der mit den Geschlechterrollen spielenden Düsseldorfer Inszenierung. Die liebliche blonde Euphrosyne alias Lady Margaret, die von Cennet Rüya Voss als Orlando wie von einem unreifen Backfisch angehimmelt wird, wird gar von Belendjwa Peter Ekemba, einer männlichen Person of Colour, gespielt. Tänzerinnen und Tänzer der Folkwang Universität der Künste geistern in Düsseldorf als androgyne Wesen durch die Szene, und die großartige Sängerin Amy Frega verkörpert mit tollen, teils von Kaczmarczyk selbst geschriebenen Songs das Thema der Gender-Fluidität nicht nur musikalisch, sondern auch per Outfit.

Auffallend, wenn auch vielleicht Zufall ist, dass sowohl in Duisburg als auch in Düsseldorf die Karikatur des Dichters Nick Greene besonders gelingt: Cathleen Baumann gibt den Dichter in Düsseldorf sehr witzig als arroganten, uninteressierten, im Hinblick auf seine Körperpflege etwas vernachlässigten Snob; Roland Riebeling zieht in Duisburg gar als eine Art Wiedergänger von Helge Schneider über die großen englischen Literaten her: „Die Poesie ist mausetot“, doziert er. Den größten englischen Dichter bringt Kaczmarczyk in Düsseldorf gleich mit auf die Bühne: Joscha Baltha und Rainer Philippi haben Auftritte als wahre Shakespeare-Clowns, Cennet Rüya Voss sitzt nachdenklich mit einem Yorick-Schädel auf der Bühne.Und wo bleibt das große Ganze? Tja, in Düsseldorf droht es tatsächlich unterzugehen zwischen den überbordenden Ideen und den allzu heterogenen Ambitionen des Regisseurs. Kaczmarczyk will viel, und er will alles gleichzeitig: Komödie und Gesellschaftssatire, Travestie-Show und Diversitäts-Plädoyer, Musiktheater, Schauspiel und allegorischen Tanz. Das alles steckt drin in der Düsseldorfer Inszenierung, und aus all diesen Bereichen lassen sich Szenen anführen, die wunderbar gelungen sind. Jede und jeder der Akteure und Akteurinnen bekommt Szenen, in der er oder sie glänzen kann. Aber diese ästhetische Vielfalt zerreißt die Inszenierung auch, lässt sie in schwachen Momenten zur Nummernrevue verkommen und verhindert, dass aus vielen schönen kleinen Szenen ein gelungenes Ganzes wird. Die Duisburger Inszenierung kommt bescheidener daher. Sie begnügt sich mit einer komödiantischen Nacherzählung, nach Rückkehr von Orlando nach England unter Einbeziehung spitzer, fast schon kabarettistischer, aber niemals alberner Szenen zur Genderdiskriminierung. Kathrin Sievers konzentriert sich dabei auf ihre beiden Hauptfiguren, für die sie zwei für das Theater Duisburg ungewöhnlich renommierte Darsteller verpflichten durfte: Friederike Becht schlägt vor allem im zweiten Teil mehr Funken aus ihrer Rolle als die allzu gleichförmig agierende Cennet Rüya Voß in Düsseldorf, und Ronald Riebeling darf neben der etwas undankbaren, aber der parodistischen Absicht der Roman-Autorin gerecht werdenden Rolle als Biograf seine komödiantischen Fähigkeiten auch in den Rollen der verschiedenen Dichter zeigen. In Düsseldorf versucht Virginia Woolf persönlich, etwas Ordnung und Struktur ins Ganze zu bringen: Claudia Hübbecker verkörpert die Dichterin: Sie kommentiert, beobachtet das Ganze mit Schreibfeder in der Hand und leiht ihrer Hauptfigur auch einmal tröstend Schoß und Schulter. Hübbecker lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei Orlando um Virginia Woolfs langjährige Geliebte Vita Sackville West handelt.

Das Fazit kommt einem irgendwie unbefriedigend vor: Nach ein paar Tagen bleiben von der gedankenschwereren, vielseitigeren Aufführung in Düsseldorf trotz (oder dank!) der herausragenden Besetzung der Nebenrollen nur schauspielerische Miniaturen im Gedächtnis, während die bescheidenere, von den Nebenfiguren oft allzu betulich gespielte Duisburger Fassung als Gesamtkunstwerk in Erinnerung bleibt. Merkwürdig – aber man kann sich halt auch mit allzu viel guten Ideen verzetteln.