Über den Umgang mit einem schmerzlichen Verlust
Jonathan Safran Foers Erfolgsroman Extrem laut und unglaublich nah (2005), die poetische Geschichte einer Sinnsuche eines Jungen, greift wichtige politische Ereignisse wie 9/11 oder den Bombenhagel über Dresden auf. Im Mittelpunkt aber steht Oskar Schell, 9 Jahre alt. Er verlor seinen Vater am 11. September 2001 beim Einsturz eines der Türme des World Trade Centers in New York. Oskar ist ein ungewöhnlicher Junge, das zeigt allein schon seine Visitenkarte: er ist Pazifist, Erfinder, Schmuckdesigner, Origamist und Sammler von Halbedelsteinen. Oskar Schell – der Name erinnert nicht zufällig an Oskar Matzerath aus der „Blechtrommel“, haben doch beide einen radikalen Blick auf die Welt, ist zutiefst verstört und traumatisiert. Stand er doch neben dem Anrufbeantworter und erlebte die fünf immer verzweifelter klingenden Anrufe seines Vaters aus einem der Twin Towers, nachdem ein Flugzeug hineingerast war. Und war nicht in der Lage, den Hörer abzunehmen. Er verschweigt dies seiner Mutter. Ebenso verschweigt er den Fund eines Schlüssels, den er in einer Vase bei den Hinterlassenschaften seines Vaters gefunden hat. Er steckt in einem Umschlag, auf dem „Black“ steht. Oskar ist entschlossen, das dazu passende Schloss zu finden und er ist bereit, 472 Menschen, die unter „Black“ im New YorkerTelefonbuch stehen, dazu zu befragen. Eine Odyssee, eine Sinnsuche beginnt. Begleitet wird er dabei von einem alten Nachbarn namens Black und später vom Untermieter seiner Großmutter, einem stummen, alten Mann, der sich, allerdings nicht für Oskar selbst, als sein Großvater erweist und der seine Frau, Oskars Großmutter, vor beinahe 40 Jahren verlassen hatte. Beide haben die Bombardierung Dresdens 1945 überlebt. Doch während die Großmutter ein neues Leben in Amerika begann, hatte der Großvater die Vergangenheit nicht vergessen können. Er kehrte erst nach dem Tod seines Sohnes bei den Anschlägen in New York zu seiner Familie zurück
Regisseur Thomas Ladwig war von Foers Roman äußerst beeindruckt: „Ein toller Autor. Seine Geschichten sind vielschichtig, über Generationen hinweg erzählt. Sie sind unglaublich berührend und poetisch.“ Ladwig sieht im Zentrum seines Interesses die Familiengeschichte sowie das Problem, wie man eine große persönliche Tragödie verarbeitet.
Die Inszenierungsarbeit war nicht einfach. Die Premiere musste verschoben werden wegen Corona-Maßnahmen, Schauspieler erkrankten. Dennoch blieb Ladwigs Begeisterung für diesen an Gefühlen so reichen Stoff. Es gelang ihm ein ausnehmend bewegender Abend, der in der intimen Kammerspielatmosphäre der Casa, wo man als Zuschauer dem Geschehen sehr nahe ist, besonders zum Tragen kam.
Wir erleben die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichen Zeiten. Ladwig hat sich nicht nur auf Oskar konzentriert (Trixi Strobel spielt diesen leicht autistischen Jungen äußerst beeindruckend), sondern auch die Großeltern in den Fokus genommen. Von drei Strängen geht es in die verschiedenen Erzählebenen. Sie sind über die Abwesenheit des Vaters bzw. des Sohnes miteinander verknüpft. Janina Sachau als Großmutter und Rezo Tschchikwischwilli als Großvater faszinieren durch ihre gegensätzliche Interpretation und Darstellung ihrer Beziehung. Der Großvater weigert sich lange, zu sprechen, er schreibt alles auf. Wir Zuschauer lesen es an einer Wand im Bühnenbild. Seine Frau dagegen ist umso lebhafter und lebensorientierter. In schnell wechselnden Szenen lernen wir die Facetten diese Ehe kennen, die geprägt ist vom Bombentod Annas, damals in Dresden, seiner ersten großen Liebe und der Schwester seiner späteren Frau.
Ulrich Leitner hat eine Wohnzimmer-Landschaft mit altmodischen Möbeln gebaut. Sie erlaubt unterschiedliche Einblicke in verschiedene Spielorte. Ladwig kann sich auf ein hervorragendes Ensemble verlassen, das durch Olga Prokot und Jan Pröhl bereichert wird.
Bei der Premiere konnte man nicht umhin, an den nicht gar so fernen Krieg in der Ukraine zu denken, wenn man die Schilderungen der Dresdner Bombennacht und die immer verzagter werdenden Anrufe des Vaters auf dem AB hörte.
Ein überaus fesselnder, berührender Abend, den man sich nicht entgehen lassen sollte.