Übrigens …

Corpus delicti im Münster, Wolfgang-Borchert-Theater

Die Krankenkasse ist "Big Brother"

Kontrolliert wird die Bevölkerung über die vollständige Erfassung ihrer körperlichen und psychischen Verfassung. Da bleibt nichts unbemerkt und auf jedes Abweichen von der Norm mit sich steigerndem Druck reagiert. Ein Pfund über‘m Idealgewicht? Andere Ernährung oder mehr Sport! Das wird kontrolliert. Denn Zuwiderhandlungen kosten das Gesundheitssystem Geld. Und Abweichler*innen dürfen doch nicht auf Kosten der Mehrheit leben. Alle haben sich zu fügen. Denn die „Methode“ garantiert das Funktionieren der Gesellschaft. Mit-dem-Strom-Schwimmen ist angesagt, denn alles ist wissenschaftlich fundiert und wohl begründet. Deshalb zieht wiederholter „Ungehorsam“ immer drakonischere Strafen nach sich. Eine „Gesundheitsdiktatur“ entwickelt Juli Zeh in Corpus delicti. Und sie zeigt auf, was passiert, wenn eine Diktatur Fehler macht, die öffentlich werden.

Mia Holls Bruder nämlich ist des Mordes für schuldig befunden worden aufgrund seiner DNA. Daraufhin hat er sich - nach vergeblichen Unschuldsbeteuerungen - das Leben genommen. Dann stellt sich heraus, dass er aufgrund einer Stammzellenspende eine fremde DNA hat. Das ist der Beweis, dass die „Methode“ irren kann. Das darf nicht sein. Und deshalb muss Mia, die nachfragt, sofort mundtot gemacht werden. Das gelingt am Ende auf besonders perfide Art und Weise und einem ausgeklügelten Unterdrückungssystem absolut „würdig“.

Bisweilen bleibt Zehs dramatischer Text an einer plakativen Oberfläche stehen. Doch dieses Manko kann Regisseurin Tanja Weidner absolut ausgleichen, indem es ihr durch konsequente und stringente Personenführung gelingt, über zwei Stunden Spannung permanent aufrecht zu erhalten und gerade in der zweiten Hälfte vorhandene Längen der Dialoge auszugleichen.

Außerdem wagt Weidner einen Schritt ins Digitale - für das Wolfgang-Borchert-Theater durchaus Neuland. So finden Gerichtsverhandlungen per Video-Call statt und nur die Angeklagte steht in personam auf der Bühne. Rückblenden auf Gespräche Mias mit ihrem Bruder sind aus mehreren Perspektiven auf Leinwänden zu sehen - für einige Besucher*innen sogar per 3-D-Brille. Ein Ausflug, der absolut passt ob des futuristischen Szenarios. Der zugleich gemahnt an wegen des pandemischen Geschehens eingeübte Gepflogenheiten.

So spannungsreich die Inszenierung Tanja Weidners zu charakterisieren ist, so permanent Spannung garantiert auch ihr Team auf der Bühne, das in keiner Sekunde die Aufmerksamkeit des Publikums zu verlieren droht. Ivana Langmajer als scheinbar nachsichtige Richterin, die sich aber in entscheidenden Momenten mit schneidender Stimme als eisenharte Verfechterin des Systems erweist, ist ebenso überzeugend wie Alessandro Scheuerer als Mias Bruder, der anarchisch um jedes Stückchen individueller Freiheit kämpft. Sein Fantasiewesen trägt dessen Gedanken zu seiner Schwester. Erika Jell tut das leicht und locker - wie Gedankensprünge nun mal sind. Florian Bender ist Mias Anwalt, der selbst von Zweifeln an der „Methode“ zerfressen wird. Zugleich sorgt er für entspannende, komische Momente als schwäbelnde Hauswartsfrau, die sich als Kontrollinstanz der „Kehrwoche“ direkt in die Zukunft gebeamt zu haben scheint. Als Antipoden stehen sich Jürgen Lorenzen und Rosana Cleve gegenüber. Er referiert die Grundsätze der „Methode“, meißelt sie sprachlich geradezu in Stein und ist bereit, sie mit allen Mitteln zu verteidigen. In ihr, der Naturwissenschaftlerin, mehren sich die Zweifel, bis sie zur Auflehnung bereit ist. Beide sind absolut überzeugend.

Corpus delicti ist eine in Konzeption und Umsetzung überaus gelungene Inszenierung des Wolfgang-Borchert-Theaters.