Stöckelschuhe auf fremdem Pflaster
„Wir waren ruhig, / hockten in den alten Autos, / drehten am Radio / und suchten die Straße / nach Süden." - Ein wenig knüpft Subbotniks Lyrik-Abend an die jüngste Performance des Köln-Düsseldorfer Theaterkollektivs an, an Alles was fehlt . Dort wurde die Sehnsucht nach der Ferne und dem Reisen thematisiert. Auch die Holzskulptur, der Martin Kloepfer mit dem Geigenbogen scheinbar die Töne eines Streichinstruments entlockt, ist wieder dabei. Ernst Jandl ironisiert unsere Wanderlust: „vom vom / zum zum // vom zum / zum vom // … // von zum zu zum // … // und zurück“
Ja, so wandern wir durchs Leben, so reisen wir: manchmal sehnsuchtsvoll und voller Melancholie, allzu oft ziellos und zurück. „Manche schrieben uns Postkarten aus der Einsamkeit“, heißt es in dem eingangs zitierten Wondratschek-Gedicht weiter. Das mag man noch zu einem ironischen Blick auf die Möchtegern-Aussteiger und -Esoteriker erklären, die mit TUI dem Alltag entfliegen, um gleich neben den Höllen des Massentourismus in einem secret ressort zu sich selbst zu finden. Aber es hat auch noch was von der Jandl-Aussage: zum zum und zurück. Wondratscheks Text hat auch eine andere, weniger sehnsuchtsvolle Komponente und evoziert manchmal geradezu Endzeitstimmung: „Einige starben, / ohne für ihre Sache gestorben zu sein.“ Subbbotniks Lyriks … von Unendlichkeit umarmt hatte schon im vergangenen November Premiere, als die Welt noch über die chinesische Seuche sprach und nicht über die russische Pest, aber wenn man solche Worte hört, wenn der in Odessa / Ukraine geborene Oleg Zhukov (in der besuchten Aufführung krankheitshalber von den übrigen Ensemble-Mitgliedern vertreten) und der aus Minsk / Belorus stammende Kornelius Heidebrecht das 190 Jahre alte Gedicht „Das Segel“ des 18jährigen Russen Michail Lermontov zitieren, stellen sich ganz andere Assoziationen ein als bei den Zuschauern in der Premiere: „Das Segel lechzt nach Sturm und Wogen, / Als ob in Stürmen Ruhe wär.“
Es zeichnet die versponnenen Abende von Subbotnik aus, dass an ihnen eine jede und ein jeder auf andere, eigene Gedanken kommen darf, dass alle ihren individuellen Träumen folgen dürfen. Heidebrecht und Zhukov thematisieren das implizit sogar bei ihren sehr verschiedenartigen Vorträgen des Lermontov-Gedichts: Für Zhukov bedeutet das Gedicht den Blick vom Ufer seiner Heimatstadt aufs Meer; es malt ein erhabenes, poetisches Bild. Für Heidebrecht dagegen, der aus dem Binnenland stammt, stecken Lermontovs Zeilen voller wildem Temperament, voll Unruhe und Sturm. Die eigens für diese Performance engagierte brasilianische Musikerin Jacqueline Dourado Ferreira untermalt die unterschiedlichen Versionen mit kongenialen Musik- und Sound-Arrangements und singt ein Gedicht von Ferreira Gullar - Lyriks beschränkt sich keineswegs auf unsere heimische Region…
Die Thematik des Reisens zieht sich von je her durch das Werk von Subbotnik. Man denke nur an ihre eigenwillige poetische Nacherzählung der Abenteuer des Robinson Crusoe, ihren tragikomischen Bericht über eine gescheiterte Nordpol-Expedition Die weiße Insel oder ihr in den Rahmen einer Reise durchs wilde Ukrainistan eingebettetes Märchen Geh nicht, ich weiß nicht, wohin – bring das, ich weiß nicht, was: Häufig standen die Erzählungen der Gruppe im Zusammenhang mit Reisen an für Otto-und-Lisa-Pauschaltouristen ungewöhnliche Orte. Diesmal hat sich das Kern-Trio des Kollektivs mit vier Mitgliedern des Ensembles vom Theater an der Ruhr Mülheim verstärkt: Berit Vander beschreibt mit einem lakonischen und doch witzigen Gedicht der Dortmunderin Katharina Bauer, dass es auch zu Hause schön sein kann - an einem regenreichen Tag mit zwei Tassen Kaffee und einem Hund, der den Bleistift benagt. Obwohl: Ist das so schön? „Ich sammle die Holzspäne auf und Splitter des Lacks. Man müsste ihn (den Kaffee) schwarz trinken an diesem Tag.“ Bittersüße Melancholie – das ist es, was die Subbotniks besonders gut können. Ein Mikro wird an die Kaffeemaschine gehalten, die Geräusche des einsamen Sonntags untermalen das Gedicht.
Die Aufführung bekommt mit zunehmender Spieldauer eine mehr und mehr versponnene, skurrile Note. Kloepfer wickelt sich zu einem Hesse-Text aus einer veritablem Laub-Skulptur; Leonhard Hugger steht als trauriger Impresario mit Anzug und Zylinder auf der Bühne. Lyriks wird zu einem Wortkonzert. Neben Jandl, Wondratschek und Bauer werden Gedichte von Hermann Hesse, Nora Bossong, Rolf Dieter Brinkmann und anderen mal melancholisch, mal auch mit aufbrausendem Sound performt, inszeniert und interpretiert sowie in skurrile Bilder gegossen. Zunehmend spielen Alltagsgeräusche eine Rolle: Außer der Kaffeemaschine sorgt auch eine alte mechanische Schreibmaschine für den passenden Rhythmus. Es entsteht ein Wortkonzert mit Musik und Geräuschen, ein „lyrisches Album voller lauter und leiser Bilder“ wie die Gruppe selbst sagt. Zuletzt werden gar Assoziationen aus dem Publikum gesammelt: Geräusche aus einer fremden Stadt sollen die Zuschauer benennen. Autoverkehr wird da genannt, aber auch – so poetisch wie die ganze Performance – „Stöckelschuhe auf fremdem Pflaster“. Die Performerinnen und Performer verarbeiten die Vorschläge des Publikums spontan zu einem musikalischen Soundteppich und verschränken sie mit einem kleinen Gedicht. - Barbara Köhlers „Lösung: Turner“ beendet den kurzen Abend: „Langsam löst sich das bild auf vor den augen. Langsam löst es sich von der wand...“
Zugegeben: Nicht immer packt diese Performance. Sie ist vielleicht nicht der stärkste Abend von Subbotnik, aber irgendwie wundersam mäandernd von rationaler Poesie bis zu kuriosen Absurditäten. Wie hieß es noch in dem Song von Ferreira Gullar: "Ein Teil von mir wiegt schwer und grübelt. Der andere Teil ist Delirium." - Die Mischung macht’s.