Headroom im Bochum, Schauspielhaus

Die wahren Abenteuer sind im Kopf

Finsterworld. Dunkel, Genossen, ist der Weltraum, sehr dunkel. Harmonische Musik erklingt, von Xylophonen, auch anderem Schlagzeug, einem Gong zum Beispiel. Das ähnele indonesischer Gamelanmusik, sagt später einer, der es weiß. Hello darkness, my old friend…

 Aber warten wir ab: Die Sounds of Silence werden bald lauter. Erstmal wird nach langen Sekunden kurz das Licht angeknipst. Wir erblicken: einen Stuhl und einen kleinen Gummibaum. Wieder wird es dunkel – und wieder hell: In einem neuen Zimmer, an gleicher Stelle in dem gleichen eng begrenzten Quadrat hängt ein Mantel an einem Kleiderständer. Daneben ein ledernes (?) Sitzkissen, eine altmodische Rippenheizung. - Black. - Und Raum Nummer drei: ein Eimer, ein Wäscheständer, ein Badezimmer-Hocker. Drei Räume in einer altmodischen Wohnung eines vermutlich eher ärmlichen Haushalts.

 Doch es gibt keine Gewissheiten an diesem Abend. Das vierte Zimmer strahlt eine vollkommen andere Ästhetik aus: eine Designer-Lampe, eine moderne Glas- oder Plexiglas-Skulptur weist auf eher bildungsbürgerliche, kulturbeflissene Bewohner hin. In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen… - Was ist das für eine Welt, für eine Behausung, durch die wir hier in kurzen Spotlights geführt werden?

 Mehr als diese vier Räume gibt es nicht. Aber immer wieder werden sie neu arrangiert – nach kurzen Dunkel-Phasen ploppt ein neues Bild auf. Die Ausstattung der Räume wird angereichert, zu Eimer und Wäscheständer gesellt sich zum Beispiel eine Leiter und zum Gummibaum ein kleiner Farn; die Ausstattung der Designer-Wohnung wächst um kühn gezeichnete moderne Möbel. Am Kleiderständer hängt beim zweiten Durchlauf zusätzlich eine Jeans-Jacke; später befindet sich ein geöffnetes Paket im Raum, und auf dem Wäschetrockner liegt ein Handtuch. Bewegung findet an diesem etwa siebzigminütigen Abend, der bereits 2018 im Theater Rotterdam mit niederländischen Schauspielern zur Uraufführung kam und jetzt mit dem Ensemble des Schauspielhauses Bochum re-enacted wurde, kaum statt, aber offenbar wohnen hier Menschen. Und tatsächlich: Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, und zum Schluss bevölkern alle fünf Personen, die diese Performance gestalten, die für einen solchen Menschenauflauf fast schon zu enge Spielfläche. Sie müssen sich dann schon zur Decke recken – und bilden damit eine veritable menschliche Skulptur. Denn es sind tableaux vivants, zu denen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler formieren – stehende Bilder, bewegungslos. Allenfalls gibt es mal abgehackte, unnatürliche Schritte oder Gesten wie von altmodischen Robotern, von Automaten – unbeholfen, aber von großer Präzision. - Der Sound, der die Bilder begleitet, erreicht nie wieder die Harmonie der dunklen Anfangs-Sequenz. Erst wird er zu einer Art klopfender, kratzender Minimal Music, dann zu einem rätselhaften Surren und Jaulen. Später schwillt er an, wird lauter, disharmonischer und gegen Ende gar zu einer Art Industrielärm.

 Bianca van der Schoot hat eine absurde, rätselhafte Performance entwickelt, ein Spiel mit unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit. Tendenziell wird die Atmosphäre im Verlauf des Abends immer unheimlicher, bedrohlicher. Surreale Momente wie ein wiederholtes Binden von Schnürbändern oder das Auf- und Zuknöpfen vor Hemden und Blusen wechseln ab mit Schmerzensbildern: Gebiert da jemand unter Qualen einen Menschen, einen Homunculus gar? Später tauchen wieder und wieder christliche Motive auf: Wollen die eingefrorenen Figuren auf der Leiter Christus vom Kreuz holen? Es gibt schöne Momente: Der Wäschetrockner wird zu einer wunderbaren Skulptur. Gummibaum und Farn wachsen an zu einem Nebelwald. Über der Szene entsteht eine Wolke – dräuend? Oder einfach nur surreal?

 Von einem psychedelischen Theater-Thriller, einem halluzinierenden visuellen Trip spricht das Produktions-Team. Das trifft es ziemlich gut. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, und sind sie nicht in unserem Kopf, dann sind sie nirgendwo, hat André Heller mal gesungen. Im Kopf des Zuschauers entwickeln sich Geschichten, und zwar individuell verschiedene je nach Vorstellungskraft und persönlicher Biografie und Erfahrung. Erinnerungen werden wach an Kay Voges‘ „hell. Ein Augenblick“ aus der Spielzeit 2016/17 am Schauspiel Dortmund. Voges hatte hier ebenfalls mit solchen tableaux vivantes und vollständigen Blackouts experimentiert. Aber dies hier ist anders, appelliert eher an das Unterbewusstsein, während Voges die intellektuelle Üerforderung und die Reflexion über die Fotografie in den Ring geworfen hatte. Die starren, maskenhaften Figuren lassen auch an Duane Hansons lebensechte Kunstfiguren denken. Aber die Performance driftet mehr und mehr in Richtung Horrorfilm ab. Wer an David Lynch denkt, liegt vermutlich nicht ganz falsch. Jedenfalls wächst die Anzahl der Rätsel und mit ihr die Faszination.

Gegen Ende bringt Cara Dillon mit dem irisch-schottischen Traditional „The Shores of Loch Bran“ noch einmal Trauer und Harmonie in die surreale Welt. Vielleicht sind am Ende alle tot. Ermordet vermutlich: Der Theater-Thriller löst das nicht auf. Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Boogaerdts Bilder sowie Wessel Schriks Musik aber berühren in ihren besten Momenten die Seele.