Erinnerung muss stören, nicht versöhnen
Im Herbst 2022 werden dreißig Jahre vergangen sein, seitdem Rechtsradikale in Mölln einen Brandanschlag auf zwei Häuser, eines davon das der Familie Arslan, verübten, bei dem drei Menschen ums Leben kamen: die Großmutter Bahide Arslan, ihre zehnjährige Enkelin Yeliz Arslan und deren Cousine Ayse Yilmaz, vierzehn Jahre alt, die zu Besuch aus der Türkei war. Weitere Familienmitglieder erlitten, ebenso wie die Bewohner im zweiten Haus, schwere Verletzungen.
Seit der Wiedervereinigung 1989/1990 kam es über die folgenden Jahre zu massiven rassistischen Ausschreitungen. Namen wie Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen prägten sich ein. Und dann am 2.11.92 der Brandanschlag in Mölln und fünf Monate später der in Solingen, bei dem fünf Menschen starben. 58 Menschen verloren zwischen 1990 und 1993 ihr Leben durch rechtsextreme Anschläge. Wie treffend beschrieb es der damalige Präsident des Zentralrats der Juden: „Zuerst brennen Häuser und bald brennen Menschen.“
Der Autor und Regisseur Nuran David Calis hat bereits mehrere Projekte am Schauspiel Köln realisiert, bei denen die Opfer von rechtsradikalen Anschlägen im Mittelpunkt stehen. So war es bei den beiden Produktionen Die Lücke und Die Lücke 2.0 über das NSU-Nagelbombenattentat in der Keupstrasse. Auch in seiner neuen Arbeit Mölln 92/22 erfahren wir durch Zitate, durch Interviews (in Videos), durch SPIEGEL-Titelblätter aus den 80ger und 90ger Jahren und vor allem durch die drei Schauspieler, wie Wiedervereinigung und Fremdenhass zusammengehörten. Ismail Deniz, Stefko Hanushevsky und Kristin Steffen erinnern sich zunächst an ihre eigenen frühen Erfahrungen. So berichtet Hanushevsky, dessen Großeltern einst aus der Ukraine geflohen waren und der in der Nähe von Linz aufwuchs, wie seine Landsleute Jagd – er nennt es „Hasenjagd“ – auf Häftlinge gemacht haben, die aus einem KZ geflohen waren. Er erwähnt auch den rechten Politiker Jörg Haider, der sich mit Sprüchen wie „Österreich den Österreichern“ einen zweifelhaften Namen machte. Steffen wuchs auf der Schwäbischen Alp auf, wo es kaum Ausländer gab, gerne aber in den Dörfern Hitlers Geburtstag gefeiert wurde. Und Deniz weiß noch gut, wie verletzend Türkenwitze waren, ebenso das Gefühl, „nicht zur Community zu gehören“. Heftig waren auch die Kämpfe zwischen türkischen Jugendlichen und Skinheads.
Die Bühne besteht aus weißen Wänden, die sich beliebig zusammenstellen lassen und auf die Fotos, Schriftzüge und Videos zu projizieren sind. Sie geben aber auch, zu einem Kubus zusammengefügt, einen Einblick in ein behagliches Zuhause, einen Hort der Sicherheit. Wenn gegen Ende des Abends dieser Kubus zerstört wird, ist das ein eindringliches Bild für die destruktiven Folgen des Anschlags.
Nuran David Calis lässt an diesem Abend Überlebende zu Wort kommen. So Ibrahim Arslan, der als Siebenjähriger den Anschlag überlebte. In einem Video erklärt er, der in der Antirassismusarbeit aktiv ist, dass die Erinnerung an die Gräueltaten nicht den Behörden überlassen sein darf, sondern die Betroffenen unbedingt einbezogen werden müssen. Und nicht bei offiziellen Gedenkfeiern, die scheinbar der Imagepflege der Politiker dienen, nur Statisten sind. Seit 2013 organisiert die Familie Arslan daher ihren eigenen Gedenktag am Jahrestag des Brandanschlags. Ibrahim Arslan ist mit seinem Bruder Gast bei der Premiere. Erschütternd, wenn sie berichten, dass 27 Jahre lang ca. 1000 Solidaritätsbekundungen, Beileidsschreiben und Vernetzungsangebote, alle an die Angehörigen gerichtet, im Archiv der Stadt Mölln lagen. Erst durch Zufall kam er dazu, sie zu lesen. Er richtet einen eindringlichen Appell an das Publikum, in dem er um Verständnis wirbt: Opfer müssten Widerstand leisten und wollten nicht stumm in der zweiten Reihe stehen. Ein wichtiger Aspekt: man muss sich neben oder hinter die Betroffenen stellen und sie Wort kommen lassen und unterstützen. Nachdenklich geht man heim und wird diesen Aufruf sicher nicht vergessen.