Weltenende hinter‘m Maschendrahtzaun
Ist es ein Biotop oder doch eine Versuchsanordnung Wenn sich Maksim Gorkijs Sommergäste zu monatelangem far niente versammeln, haben sie sich abgeschottet. Ihre Welt ist umzäunt von Maschendraht, der hoch reicht und jedes Überklettern unmöglich macht. Draußen bleiben müssen traurige Gestalten, Flüchtlinge vielleicht, die ein um das andere Mal verscheucht werden. Mit der Wirklichkeit will sich in dieser Gesellschaft absolut niemand auseinandersetzen. Das eigene Ich und die Beziehungen untereinander sind da doch viel spannender. Sie bieten Stoff genug, um nicht das sehen, begreifen und verarbeiten zu müssen, was wirklich geschieht und zu großen Veränderungen führen wird und bereits geführt hat. Ihre Welt ist dem Untergang geweiht. Und das gleich doppelt, denn unter ihnen wandeln „Wesen“ einer außerirdischen Spezies, die ihr Verhalten bewerten und dann final über den Untergang der Menschheit entscheiden sollen.
Und so essen sie Apfelkuchen, trinken Schnaps und grillen vegane Würstchen. Und beginnen sich zu zerfleischen. Der eine oder andere Seelenstriptease ist da noch das Harmloseste. In den unterschiedlichsten Kombinationen treffen sie aufeinander. Da steigert sich ein bloßes Kompliment in ein Liebesgeständnis und eine kleine Indiskretion löst eine beleidigende Bloßstellung aus. Ein „Fickverhältnis“ wird zementiert und eine große Liebe zerredet. Und immer wieder lösen gezielt gesetzte Nadelstiche größere oder kleinere „Katastrophen“ aus. Da redet die ach so patente Mutter über die Kinderlosigkeit ihrer Freundin und ein Schriftsteller mit Schreibblockade muss sich die Schulmädchengedichte der Schwester seines Gastgebers anhören. Und - streckenweise fast somnambul - wandelt mittendrin die Gattin des Hausherrn, die sich immer schon nach etwas „Anderem“ sehnte und eigentlich immer schon diesen Ort verlassen wollte. Das ist amüsant, aber auch zäh und ätzend. Und vor allem ist es hochgradig banal. Nein, freundlich geht Maksim Gorkij nicht um mit seinen Figuren, die Augen, Mund und Herz vor der Realität verschließen. Mit ihnen hat er kein Mitleid.
Das hat auch Regisseur Andreas Kriegenburg nicht. Aber er lässt dennoch das allzu Menschliche der Verhaltensweisen nicht außer acht. Ihm gelingt es in den personenreichen Sommergästen, allen Handelnden Individualität zu geben und so Verständnis zu evozieren. Wer würde sich frei machen wollen vom Griff nach verlockender Realitätsflucht in Krisenzeiten? So ein, zwei Pfund Weizenmehl und eine Flasche Sonnenblumenöl mehr im Schrank? Das ist natürlich dumm, aber…
Kriegenburg lässt uns - auch voyeuristisch - teilnehmen am Leben der Sommergäste. Aus dem Haus werden die Menschen per Videoeinspielung gezeigt, die sich von der Bühne zurückziehen. Kriegenburg schafft ein virtuoses Ensembletheater, das immer wieder neue Konstellationen in den Mittelpunkt rückt, aber nie jemanden, der sich auf der Bühne befindet, vernachlässigt oder unmotiviert handeln lässt - wunderbar wie auch Souffleur Heinrich Maas ins Bühnengeschehen einbezogen wird.
Das Schauspielensemble des Theaters Münster kann hier aus dem Vollen schöpfen und alle Tugenden des Zusammenspiels von Menschen, die nicht nur punktuell miteinander arbeiten, zeigen. Man kann sich aufeinander auch in einer größeren Gruppe verlassen. Das beweisen Regine Andratschke, Frank-Peter Dettmann, Joachim Foerster, Marlene Goksch, Ilja Harjes, Julian Karl Kluge, Ulrike Knobloch, Lea Ostrovskiy, Rose Lohmann, Gerhard Mohr, Jonas Riemer, Christoph Rinke, Wilhelm Schlotterer, Paul Maximilian Schulze und Carola von Seckendorff. Ein besonderer Dank gilt Thomas Mehlhorn, der sehr kurzfristig für den erkrankten Christian Bo Salle einspringt.
Und zum Schluss? Wir ahnen es: Die Daumen der Außerirdischen zeigen nach unten und abrupt ist eben Schluss mit der Menschheit. Und ganz am Ende? Tosender Applaus für Ensemble und Regieteam - mit Fug und Recht.
Das Schauspielensemble verabschiedet sich nach zehn Jahren Schauspieldirektion Frank Behnke vom Theater Münster. Behnke hat mit seinen Programmkonzeptionen und mit eigenen Regiearbeiten sehr große Fußabdrücke hinterlassen und das Schauspiel in Münster tief geprägt.