Wie Richardis zur Könixe wird
Im zweiten, langen Lockdown des Winters 2020/21 hatten die Theater hinzugelernt. Sie streamten nicht nur Aufzeichnungen aktueller und historischer Aufführungen, sondern sie entwickelten neue, oftmals hybride Formate, genreübergreifend, experimentell, auf Techniken digitaler Kunst zurückgreifend. Eine neue Kunstform weckte unsere Aufmerksamkeit, für den Theater-Enthusiasten vielleicht nur ein schwacher Ersatz für das Live-Erlebnis im Parkett, aber doch innovativ und voller kreativer Ideen. Pinar Karabulut entwickelte mit dem Schauspiel Köln vielleicht nicht den technisch avanciertesten, aber fraglos einen der gelungensten Theaterstreams der Republik, einen Sechsteiler im Serienformat, mehr Film als Theaterspiel, aber vielleicht gerade darum ästhetisch hinreißend. Grundlage war Ewald Palmetshofers Marlowe-Überschreibung Edward II. Die Liebe bin ich - nicht „L’État, c’est moi“ also, sondern „L’amour, c’est moi“, und zwar in allen Variationen der LGBTQ-Kultur bis hin zum gewaltigen Gemetzel. Karabuluts grandiose genderfluide, feministisch angehauchte, zitatenreiche, zu gleichen Teilen intelligent durchdachte und zutiefst einfühlsame Film-Inszenierung ließ den Theaterfreund die Mangelerscheinungen in jenem Winter unseres Missvergnügens vergessen.
Mit ähnlicher Ästhetik schließt Karabulut jetzt am Schauspiel Köln ein neues Königs-Drama an. Diesmal ist es der Marlowe-Zeitgenosse William Shakespeare höchstpersönlich, der sich eine Überschreibung gefallen lassen muss. Sie stammt in diesem Falle von der jungen Schweizerin Katja Brunner. Liebesverwirrungen gibt es auch da (sicher mehr als in Shakespeares Original), und Gemetzel erst recht. Der Winter unseres Missvergnügens ist bei Brunner/Karabulut dem „Winter unseres Unbehagens“ gewichen, und blickt man auf die aktuelle weltpolitische Lage, ist das wohl noch untertrieben. Richard Drei ist eine Frau, und der Untertitel „Mitteilungen der Ministerin der Hölle" entspricht ziemlich exakt dem köstlichen schwarzen Karabulut-Humor. Inhaltlich folgt der Text – bei großzügiger Betrachtung jedenfalls – dem blutigen Shakespeare-Drama, wobei, wenn es schon um Sex und Macht geht, dem Sex eine etwas größere Rolle zugestanden wird: dem Körper nämlich, der ganz offensiv auch in sexueller Hinsicht strategisch eingesetzt werden soll – kämpferisch, feministisch, nonbinär. Und kriegerisch: „Mein Körper will Torpedo sein“, heißt es da; von der „Lust der Angst“ ist die Rede. Das friedliche Leben der englischen Aristokratie ist der krabetzigen Richardis, wie sie bei Brunner heißt, ein Graus. Die üblichen Geschlechterrollen sind weitgehend aufgelöst: Längst hat frau sich die Macho-Methoden der ollen Shakespeare-Figuren angeeignet, wobei sich durchaus die Frage stellt, ob die Kategorisierung in Mann und Frau bei dem achtköpfigen Ensemble (5 D, 3 H) noch angemessen ist: „Die Empfänglichkeit für Masochismus kommt nicht aus der Eisenzeit“, heißt es da zum Beispiel; männliche und weibliche Verhaltensweisen seien nicht angeboren, sondern anerzogen. Auf großartigen, in den Bühnenraum gehängten Bildern foltert in Umkehrung traditioneller Rollenbilder eine Frau einen Mann. Nikolaus Benda legt die Figur des Buckingham als ein Musterbeispiel einer genderfluiden Persönlichkeit an. Und schon früh weist Yvon Jansen als Richard(is) auf die nonbinäre Auslegung ihrer und vieler anderer Rollen hin: Sie konstatiert, dass nur im Krieg die Unterschiede zwischen ihrem scheinbaren Geschlecht und ihrer realen Empfindung einigermaßen aufgelöst sind.
Haben wir es bei den Mittelungen der Ministerin der Hölle mit einer Kampfschrift der LGBTQ-Szene zu tun? Aber nicht doch! Karabuluts Inszenierung ist alles andere als ein humorloser, bierernster Kampf um aktuelle ideologische Positionen. Sie steckt voller Witz und Ironie: Wenn sich zum Beispiel ein Chor übrig gebliebener Cis-Männer seines Selbstbewusstseins beraubt sieht alle maskulinen Verhaltensweisen bis hin zur Vergewaltigung fatalerweise strafbedroht findet, ist das eine kabarettistische Glanznummer. Schon die Ausstattung nimmt die lässig-witzige Grundhaltung des mit 190 Minuten allerdings allzu langen Abends auf: Die quietschbunten Kostüme von Claudia Irro unterstreichen den humorigen Ansatz ebenso wie den nonbinären: Untenrum tragen die meisten Figuren lange Schleppen, die bei manchen elegant über modern wirkende Damen-Hosen fließen, während die Kleider obenrum eher maskulin wirken bzw. den Gestalten zu einer androgynen Wirkung verhelfen. Historisierende Elemente erinnern bisweilen daran, dass wir es mit einer Shakespeare-Überschreibung zu tun haben. Poppige Farben und großer Bildwitz prägen auch die Bühne und die Requisiten: eine angedeutete Burgmauer zum Beispiel, vor allem aber das „Schwanobil“, mit dem Richardis ums Schloss kurvt und das sie dem sinistren „Totmensch Tyrell“, einer feinstes Hamburgisch schnackenden Comic-Figur, zwecks zügiger Ermordung der beiden Prinzen für die Fahrt zum Tower leiht. Da lässt nicht nur Leda, sondern auch der Münsteraner Aasee grüßen, auf dem ein schwanengleiches Tretboot dereinst für entzückende Liebesverwirrungen in der Tierwelt sorgte. Komik und schwarzer Humor prägen dann die Erzählungen vom erfolgreichen Gemetzel. Großartige Choreografien, ein toller Soundtrack und geradezu surreal zwischen Horror und Komik, Pathos und Ikonen-Malerei changierende Video-Gemälde nehmen gefangen und eröffnen vielfältige neue Assoziationsräume.
Auf nichts davon möchte man verzichten. Und doch werden all diese möglichen Ablenkungen zu einem Problem der Aufführung. Sie verlocken geradezu, sich dem manchmal sperrigen, oft viel zu schnell gesprochenen Text zu entziehen. Dieser hat eigentlich Jelinek’sches Format. Brunners Kalauer jedenfalls, derer sich die humorvolle Regisseurin virtuos bedient, könnten original von der österreichischen Nobelpreisträgerin stammen; die theoretischen Überhöhungen dagegen, die feministischen respektive genderpolitischen Botschaften geraten der intelligenten Autorin manchmal allzu sachbuchhaft und entfalten auf der Bühne nur schwer ihre Wirkung. Eine Stärke des Texts sind die mal nur versteckten, mal zu langen Monologen ausgedehnten Anklänge an die Gegenwart: Der Text verhandelt nicht nur die gegenwärtigen konträren genderpolitischen Positionen, sondern er lässt mit seinen Kriegsberichten und den Machtphantasien Richards auch unwillkürlich an den Ukraine-Konflikt denken. „Ich sehe schon notdürftig beerdigt die Zivilistinnen“, heißt es da, und wohl jeder hat die Bilder von Butscha und Irpin vor Augen. Gegendert wird, dass es eine Lust ist: Es gibt Prinzis, Lordessen und Könixen; Richard selbst heißt Richardis – bei solcher Kreativität streckt der Kritiker der doofen Gendersternchen vergnügt die Waffen. Aber die überbordenden Regie-Ideen erschlagen den Text. Man hat unfassbar viel zu schauen, man lauscht der großartigen, wummernden Musik, versucht Su Steinmassls großartige Video-Bilder zu entschlüsseln, erfreut sich an den Tänzen und Choreografien – und vergisst bereitwillig, dem Text zuzuhören. Denn leider mutieren die Mitteilungen der Ministerin der Hölle allzu häufig zu schrillen Schreien aus dem Reich des Satans: Es wird gekreischt und krakeelt, dass dem in dieser Hinsicht vielleicht etwas überempfindlichen Rezensenten die Ohren schmerzen. Das beeinträchtigt das Vergnügen an einem alles in allem dennoch sehenswerten, kreativen und sinnlichen Abend, an dem auch die höchst sportive Leistung der obersten Manipulateuse dieser Hölle überzeugt: Yvon Jansen, die sich zur Könixe krönt, steht fast ununterbrochen unter Strom. Auch die krakeelt, aber sie gräbt sich tief ins Langzeitgedächtnis der Theaterfreundnennis ein. Ob allerdings unter ihr und in einer Welt, in der die Geschlechterrollen aufgelöst sind, alles besser wird, bleibt offen. Im Schlussbild leuchten in feministischem Rosa die Bögen des neuen Schlosses, das einen Garten umschlingt. Aber wahrscheinlich ist auch das nur ein Trugbild der Hölle.