Kameraden der Berge
Ein Bergsteiger-Drama in Hannover? Ja, und es sind keinesfalls Flachland-Tiroler, die sich hoch droben am Monte-Rosa-Massiv, am Montblanc und in den Dolomiten treffen. Regisseur Matthias Rippert hat die drei Rollen mit einem Schweizer, einem Österreicher und einem Nordrhein-Westfalen besetzt (und zwar mit drei Männern, was auch nicht ohne Bedeutung bleiben wird). Die Besetzung verleiht dem Drama nicht nur Kolorit und Heimatdichter-Ironie, sondern zieht auch noch eine zusätzliche Ebene in Doplers so leichtfüßig daherkommende, aber ohnehin schon vielschichtige Komödie ein.
Bergsteiger wollen hoch hinaus; man knipst sie am besten im Hochformat. Im Handy-Hochformat hat Fabian Liszt seine tolle, eigentlich ganz banale Bühne gestaltet: La Montanara für das Objektiv. Links und rechts ist viel Leere, und in der Mitte wird gespielt in einem Rahmen, der die vergrößerten Seitenverhältnisse eines Mobile Phones hat. Ein steiler Felsen ragt auf; dahinter öffnet sich der Blick auf eine Wolkenlandschaft. Das Bild ist fast schon hyperrealistisch: Das Licht ist magisch, der Felsen überscharf, die Wolken dagegen sind eher verschwommen. Bis nach Italien kann man sehen, sagt einer der Kameraden der Berge, aber so richtig klar sieht man nicht: „Wie war die Dunstlage?“, fragt A den B, als d beiden einander - zufällig oder nicht - treffen. „Dunstig“, antwortet der. In diesem Dunst lässt sich vieles sehen und bleibt manches vage.
Zum Beispiel, mit was für einem Drama wir es hier eigentlich zu tun haben. Denn das Bergsteigen ist natürlich vor allem eine Metapher. Hoch hinaus muss es gehen, und man darf keine Schwäche zeigen. Und wenn man Schwächen hat, gilt es sie zu verbergen. Auf dem Weg nach oben sind Partner hilfreich, aber Partner sind auch Konkurrenten. Allzu viel Empathie, allzu viel Rücksichtnahme könnte da hinderlich sein. Vor allem A und B (in Hannover: der Schweizer und der Deutsche) betreiben Maskenball im Hochgebirge. Sie tun, als seien sie forever young: kernig, knackig, unbesiegbar. Aber sie sind längst in einem Alter, in dem sie das Bergsteigen an ihre körperlichen Grenzen treibt. Ihre langen Matten, die verwegen unter ihren Helmen flattern, entpuppen sich als Haarteile, die ihre Glatzen bedecken. Vielleicht, denkt man, ist der Burnout nicht mehr fern. Sich kernig und unbesiegbar zeigen zu müssen, trotz eventuell baldigem Burnout - das kennen wir auch dem richtigen Leben, aus dem Beruf, aus der Wirtschaft, vielleicht gar aus der Familie. Den drei Bergsteigern, die Teresa Dopler in Monte Rosa beschreibt, hat die Autorin keine Biografie mitgegeben. Sie haben keinen Beruf, keine Familie. Sie sind Bergsteiger, dem Aufstieg verpflichtet Tag für Tag, Jahr für Jahr. Und wenn dies denn ihre Profession ist, so üben sie sie mit Leib und Seele aus. Bis ihre Fassade zusammenbricht. Aber da ist der stärkste von ihnen schon tot.
Mit unsicherem Smalltalk nähern sich A und B einander an. Doch sie protzen auch mit ihrem Wissen und ihrer Fitness. Schon das ist große Comedy, leise und mit subtilem Humor gespielt. Vor allem A, in Matthias Ripperts Inszenierung vom Schauspiel Hannover brillant gespielt von Lukas Holzhausen, gibt an wie ein Sack Sülze und lässt B (Mathias Max Herrmann) auf fiese, aber unangreifbare Weise alt aussehen. Doch der lässt seinen Kumpel auflaufen: Schnell gerät Holzhausen in Panik, als sich herausstellt, dass Herrmann beim Aufstieg einen Helm gefunden hat, dessen Verlust Holzhausen bis dato noch gar nicht bemerkt hat. Da könnte ja vielleicht doch… Jedenfalls reift die Erkenntnis: Allein sein ist suboptimal, auch in den Bergen. Man braucht einen Partner, für die nächste „Besteigung“. Die beiden Möchtegern-Alphamännchen zeigen Interesse füreinander. Da tritt der Dritte im Bunde in ihr Leben: Nikolai Gemel als C. Und der ist wirklich jung und hat alles, was das Herz der älteren Herren begehrt.
Ja, nicht nur um Aufstieg und das Alpha-Männchen-Gehabe verletzlicher Kreaturen geht es in diesem Drama, sondern auch um das Begehren. Teresa Dopler hat ihren Figuren keinerlei Geschlechtszugehörigkeit mitgegeben, sondern sogar auf jede Andeutung einer Biografie verzichtet. A, B und C sollen geschlechtslose, exemplarische Wesen sein. Bei der Uraufführung des Dramas am Niederösterreichischen Landestheater St. Pölten wurde A von einer Frau gespielt. Längst ist Bergsteigen nicht mehr nur Männersache (zwei Tage vor dem Besuch der Aufführung hat die Nepalesin Lhakpa Sherpa mit ihrer zehnten Besteigung des Mount Everest den Frauen-Weltrekord gebrochen), aber dennoch erweist sich die Entscheidung von Matthias Rippert, alle Rollen mit Männern zu besetzen, als der Komödie zuträglich. Denn ihr Verhalten ist typisch maskulin: machohaft und verletzlich. Ripperts Protagonisten zeigen, dass machohaft nicht weit von kindisch entfernt ist. Was die drei miteinander treiben, wenn sie einander auszustechen versuchen, wenn sie ihre Überlegenheit gegenüber dem Berg und gegenüber ihren Rivalen zu demonstrieren versuchen, erinnert an Sandkastenspiele kleiner Jungs. Und wenn sie umeinander kreisen im - scheinbar auch körperlichen - Begehren, hat das etwas von der unsicheren Annäherung zweier verliebter Pubertierender, die ihre allerersten Erfahrungen mit der Liebe machen. Nicht von ungefähr sind die Begriffe „Partnersuche“ und „Besteigung“ zweideutig. Könnte der Widerspruch zwischen dem einerseits typisch maskulinen Protzen und dem andererseits schon an Verzweiflung grenzenden Begehren in einer heterosexuellen Konstellation so viel Komik entfalten, wenn die Besetzung typisch männlich-weiblichen Rollenklischees folgen würde? - Holzhausen präsentiert sich wie ein Gockel, und Herrmann notiert mit dem kritischen Blick eines Gebrauchtwagenhändlers: „Dein Plattsehnenmuskel ist besonders schön ausgeprägt.“ Und Gemel, der den Älteren nicht zu brauchen vorgibt und der Unsympathischste der Drei ist, wird ganz kirre, als er mit Holzhausen „Übungen“ machen soll: Das Auge nimmt Dehnübungen wahr, der Kopf übersetzt: Sex. Die Homoerotik der Szene ist nicht zu verkennen, und der Witz ist viel weniger platt als wenn sie von zwei Heteros gespielt würde.
Doch verweilen wir nicht beim Begehren, zumal auch das nur egoistische Ursachen hat. Die Empathie bleibt bei diesen Figuren auf der Strecke - so wie in weiten Teilen unserer Gesellschaft. Gemel als C berichtet vom Absturz eines Kollegen, den er vor wenigen Stunden beobachtet hat. Voyeuristisch hat er gewartet, bis die Schreie des Opfers verstummten. Dann hat er seine Bergwanderung fortgesetzt. Ebenso regungslos werden A und B später auf die Leiche von C blicken. Der hatte stets Angst vor Steinschlag gehabt – und wird prompt erschlagen. A und B wandern weiter. Viele Rezensenten lesen diese Szenen als Sinnbild für den Kapitalismus, der von Konkurrenzkampf, Mitleidlosigkeit gegenüber den Opfern und Gnadenlosigkeit gegenüber den Mitbewerbern um den Aufstieg geprägt sei. Und dessen Stabilität längst bröckelt.
Zuletzt zeigen A und B sich einander ungeschützt mit ihren Unzulänglichkeiten, ihren Narben und Verletzungen. Sie scheinen Freunde geworden zu sein - ein altes Ehepaar, bei dem das Begehren nachgelassen hat, die Gehässigkeiten zur Routine geworden sind, aber man sich nichts mehr vormacht. So wie ihre Fassade bröckelt, bröckeln von Beginn an auch die Alpen. Der Berg ruft nicht mehr, der Berg donnert. Alle paar Minuten geht eine Geröll-Lawine nieder. Teresa Doplers Text ist auch ein Kommentar zur Klimakatastrophe und zum Umgang der Gesellschaft damit. Ungerührt wandern die Bergsteiger weiter, auch wenn das Matterhorn längst sein Horn verloren hat. Und sie lachen. Das Echo dieses Lachens hat einen gewaltigen, gruseligen Widerhall wie in einer Geisterbahn.