Was taugt ein Held als Vater?
Telemachos - das ist auch so eine wenig beachtete Figur aus der griechischen Antike. Der Sohn des Odysseus lag wohl noch in den Windeln, als sein Vater in den Trojanischen Krieg zog. Und als der nach zehn Jahren endlich siegreich beendet war, schipperte Papa weitere zehn Jahre von Abenteuer zu Abenteuer über die Meere. WhatsApp war noch nicht erfunden, und so wussten Telemachos und Mutter Penelope nicht einmal, ob Odysseus noch am Leben war. Das Kind wuchs quasi vaterlos auf und musste zudem zusehen, wie sein Heim von den Freiern seiner Mutter belagert wurde, die nur auf die offizielle Toterklärung des griechischen Helden warteten, um sich dann um die Hand der gealterten Witwe zu kloppen und König von Ithaka zu werden. Das muss eine zumindest irritierende Situation gewesen sein für den Sohn ohne Vater, der trotzdem an einen Helden als seinen Erzeuger glauben soll. Wenn man Ninon Perez glauben darf, die in der Inszenierung des Agora Theaters St. Vith Die seltsame und unglaubliche Geschichte des Telemachos in einer 45minütigen Solo-Show für Erwachsene und Kinder ab 7 Jahren erzählt, liegt man mit dieser Vermutung richtig.
Telemachos ist einsam. Die Nachkommen der Garnelen sind das nicht, denn Garnelen legen 25 000 Eier im Jahr, so dass sie niemals ohne Gesellschaft aufwachsen. Woher Telemachos das weiß? Nun, eigentlich soll er in seiner Schulklasse ein Referat über Garnelen halten. Er war fleißig: So viel haben wir noch nie über die Tierchen aus der Familie der schwimmenden Wasserkrebse gewusst wie wir in den ersten zehn Minuten dieser Inszenierung erfahren. Doch mehr und mehr schweift Telemachos ab. Es ist schon komisch, in einer Stadt zu leben, in der man von jedem Fleck aus den Palast des Vaters sehen kann und in der man überall dessen Namen liest, der ja auch der Name von Telemachos ist - und diesen Vater gar nicht zu kennen! Einem pubertierenden Sohn ist solch ein Protz um Papa im Übrigen auch mächtig unangenehm: Vater „muss ein bisschen größenwahnsinnig gewesen sein“, meint Telemachos, und wir Alten von heute haben längst an den Ak-Saray des Autokraten und wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Geisterfahrers Erdogan mit seinen 300 Zimmern oder den Palatul Poporului des verblendeten Volksfreunds Ceausescu gedacht. Dass Telemachos mehr an seinen Vater als an seine Garnelen denkt, liegt an einem merkwürdigen Vorkommnis: Gestern hat er durch Zufall eine Götterzeitung erhalten - irgendwie so … spritz … auf seinen grauen Multifunktions-Einteiler, der Ninon Perez nicht nur als bequemer Tanz- und Sportanzug dient, sondern mit dem sie sich durch Aufklappen diverser Taschen oder Epauletten in andere Personen hineinzuversetzen scheint (was sich für das Publikum leider nicht immer als durchschaubar erweist). Die griechischen Götter waren offenbar nicht minder an Promi-News und blutigen Kriminalgeschichten interessiert als wir Zeitungsleser von heute: Jedenfalls kann Telemachos plötzlich nachlesen, was sein Vater auf seiner Irrfahrt bislang so alles getrieben hat - von Aiolos bis Polyphem, von Kalypso bis zur Schweinebucht. Und da Telemachos clever ist, fragt er sich zu Recht, ob das alles so unfreiwillig war, was Papa an Abenteuern einging: wenn er sich von Circe becircen und von den Sirenen betören ließ zum Beispiel. Oder wenn er den Zyklopen bekämpfte und ihm trotzdem noch die Gelegenheit zum Steine-Weitwurf gab. „Vater liebt es offenbar, ein Held zu sein“, stellt Telemachos fest, und: „Vater scheint es nicht eilig mit seiner Rückkehr zu haben … Er stellt sich jeder Gefahr, selbst wenn es sinnlos ist.“
Heldenverehrung ist doof - die Message kommt schon an. Wie gesagt, an jeder Straßenecke von Ithaka liest man Odysseus‘ Namen, so wie bei Türkmenbashi in Aschgabad. Garnelen haben keinen Namen. Einen Namen macht man sich, wenn man tötet. Den Namen „Vater“ kann Telemachos kaum aussprechen: Nur selten kommt Ninon Perez bei diesem Begriff über die ersten zwei Buchstaben hinaus. Der Vaterrolle wird Odysseus nicht gerecht. Nicht von ungefähr fällt Telemachos, wenn er imaginiert, was sein Vater in der Ferne eventuell vermissen könnte, zunächst dessen Palast, dann sein Olivenbaum und dann sein Hund ein - und dann erst Frau und Kind. Telemachos wird nicht mehr auf die Rückkehr von Odysseus warten. Falls er je zurückkehrt, wird er ihn vorurteilsfrei empfangen und sich ein Bild machen - von ihm als Vater, nicht als Held.
Felix Ensslin stellt in seiner Erzählung der Abenteuer die stets so vernachlässigte Figur des Sohnes von Odysseus in den Vordergrund. Was Telemachos vermutlich umtreibt, was er vermisst und was er glasklar erkennt, hat Gregory Caers in einer belgisch-deutschen Koproduktion mit dem Jungen Schauspiel Düsseldorf schon einmal erzählt, allerdings als Rahmenhandlung zu einer Flucht-Erzählung (siehe hier) und mit einem großen Mehr-Personen-Ensemble, mit Musik und viel Getöse. Die Inszenierung entwickelte sich zu einer mitreißenden Abenteuergeschichte mit zu Herzen gehendem Telemachos-Kummer. Bei Ensslin ist Ninon Perez allein für das Getöse verantwortlich. Zur Verfügung hat sie nur eine winzige Spielfläche und ihren Multifunktionsanzug. Trotz des humorvollen Textes kämpft sie einen schwierigen Kampf um die Aufmerksamkeit des jungen Publikums. Sie turnt und tanzt, sie beeindruckt mit einer großartigen Körperbeherrschung sowie mit charmanten, überraschenden gedanklichen Wendungen - und doch bleibt die Aufführung etwas blutleer. Da die Inszenierung wenig Platz und nahezu keine Requisiten benötigt, ist sie hervorragend als Klassenzimmerstück geeignet. In der Enge einer Schulklasse mag sie größere Wirkung entfalten.