Beckett und die verlorene Macht Gottes
Gott ist tot. Staub rieselt aus dem weißen Nachthemd des klischeehaft mit weißen Nachthemd und Rauschebart ausgestatteten alten Mannes, der nur noch Unverständliches in einer fremden Sprache brabbelt. „Jeremiah“ glaubt man zu verstehen, und „Juda“. Wer des Hebräischen mächtig ist, erkennt den vor sich hin gemurmelten Monolog als Zitat aus dem Alten Testament, aus dem Buch des Propheten Jeremias: „Von Norden her wird das Unheil losbrechen über alle, die im Land wohnen.“ Dann zieht der Greis sich splitternackt aus und legt sich zum Sterben in ein eisernes Bett, dessen Anblick allein schon Rückenschmerzen verursacht. Mit Gott stirbt jegliche Moral.
Praeteritis dicere non potes quid faciendum sit. Sieben „Motti“ werden in lateinischer Sprache angezeigt und mit raunender Stimme aus dem Off übersetzt: „Man kann der Vergangenheit nicht sagen, was sie tun soll.“ Ein weiser Satz, den wütende Ideologen, Politiker oder Wirtschaftslenker beherzigen sollten, wenn sie Handlungen und Entscheidungen verdammen, die in der Vergangenheit ohne das Wissen und den Zeitgeist von heute erfolgt sind. Aber dem Propheten hätte man vielleicht besser zugehört. Faschistoide Polizisten übernehmen die Macht. Zunächst einmal lassen sie sich vor einem liturgischen Gewand fotografieren - sei es, um Gott zu verhöhnen, sei es, um ihre Machtübernahme zu legitimieren. Dann herrschen Folter und Faschismus sowie dröhnende Maschinen.
Zwei von denen rotieren bereits auf der Bühne, als das Publikum noch auf der Suche nach seinen Plätzen ist. Die eine sieht aus wie eine Kreuzung aus Kamera und Kanone (eine antiquierte Filmkamera, kombiniert mit einer Art Schieß-Vorrichtung. Die andere ähnelt von fern einem Radargerät. Überwachung ist überall – und Bedrohung auch. Scheinwerfer blenden, und den Lärm, der das ganze Haus wie ein Erdbeben erschüttert, hatten wir schon am Abend zuvor beim Besuch von William Kentridges Sibyl eine Etage tiefer mit Unbehagen wahrgenommen. Bei den Polizisten handelt es sich um willenlose Männer, um tumbe Repräsentanten der neuen Macht, der sie mit bedingungslosem Gehorsam folgen. Die fast dreißig Männer in absolut gleichen schwarzen Uniformen wissen nicht, was sie tun. Es sind Laien, die an jedem Gastspielort von Romeo Castelluccis „Bros“ neu gecastet werden und ihre Aufgaben, die sie auf der Bühne erfüllen werden, zuvor nicht kennen. Sie erhalten Anweisungen über Kopfhörer, und sie haben sich einem Verhaltenskodex unterworfen, der sie zur unwidersprochenen Befolgung aller Befehle verpflichtet. Eine eigene Haltung ist nicht erlaubt, spontane Reaktionen sind es auch nicht. Auch sie agieren wie Maschinen – eine „Gehorsamkeitsmaschine“ nennt sie der Veranstalter. Bei den Bros handelt es sich um eine düstere, einschüchternde Truppe, die vor keinem Tabu zurückschreckt. Durch Berühren eines metallenen Rings beschwört ein Männerbund die bedingungslose Loyalität seiner Mitglieder bei ihrem finsteren Tun. Der Feuerkult der Nazis wird zitiert: Wenn die göttliche Flamme angezündet wird, denkt man an das olympische Feuer des Jahres 1936 und an Riefenstahl-Ästhetik. Kann sein, dass Leni ihre Freude an den Macht- und Gewalt-Ritualen hätte, die Castellucci von seinen performativen Laien erwartet.
Dass diese Laien in Polizeiuniformen gekleidet sind, sei wohl ein kritischer Kommentar zur Polizeigewalt in vielen – auch demokratischen – Staaten, war vereinzelt im Publikum zu hören. Doch die Polizeigewalt ist hier allenfalls eine Metapher. Castellucci stelle bohrende Fragen zu Willensfreiheit, Theater und Politik, heißt es in den Ankündigungen der Veranstalter. Wenn das so ist, dann ist es mit der Willensfreiheit vorbei, dann fürchten wir im Theater die toxische Macht der Intendanten, dann erleben wir die Verwandlung der Demokratie in einen brutalen Polizeistaat und das Wiederaufleben von Faschismus. Die verbrecherischen Angriffe Russlands auf die Ukraine und das Verhalten der russischen Armee gegenüber ukrainischen Zivilisten scheinen dies z. Z. auf empörende Weise zu bestätigen. Doch wäre ein solcher Vergleich wohl zu kurz gegriffen. Letzten Endes ist Bros vor allem eine streng und mit großem Perfektionismus choreografierte, erschreckende Warnung vor dem Verlust von Moral. Gott ist tot, und der Götze des Nihilismus wird angebetet. Eine mechanische Beckett-Puppe dirigiert die gläubigen Massen. Und wo der Nihilismus regiert, ist alles erlaubt.
Alles. Die Bilder, denen Castellucci sein Publikum aussetzt, sind schwer auszuhalten. Schonungslos realistisch zeigt er Bilder von Folter, Züchtigung und Kasteiung. Ein nackter Mann wird ausgepeitscht, minutenlang. Gnadenlos werden wir gezwungen, seinen Zuckungen, seinem Leiden zuzusehen. Zu den Schlägen der Gummiknüppel hallt der brutale Sound der „Musik“ von Scott Gibbons. Ein Gefangener wird dem Waterboarding unterzogen. Zwischenzeitlich lassen sich die Polizisten vor einem Leichensack fotografieren – die liturgischen Gewänder haben ausgedient. Waffen werden auf das Publikum gerichtet; im Parkett werden wir von den Vertretern des gottlosen Polizeistaats mit ihren am Gürtel baumelnden Gummiknüppeln eingekesselt. Unten patrouillieren die Polizisten mit Schäferhunden. Der wummernde Sound der Maschinen schmerzt. Salven von Schüssen aus schweren wie leichten Waffen jagen Angst ein.
Gott (oder war es der Prophet Jeremia?) erscheint noch einmal. Er hat Blutflecke auf seinem weißen Gewand und legt uns – und den Polizisten – den abgeschlagenen Kopf eines Lamms zu Füßen. „Seht das Lamm Gottes, das das die Sünde der Welt hinwegnimmt“, hatte Johannes der Täufer ausgerufen, als er Jesus zum ersten Mal erblickte. Das Lamm Gottes ist ermordet; diese Welt verdient den Erlöser nicht mehr. Wieder zuckt am Boden eine Gestalt unter den Schmerzen von Elektroschocks. Hunde bellen. Und dann, ganz zart, ganz leise: ertönt von hinten eine harmonische Arie. Ganz kurz nur, bevor es wieder wummert und vibriert. „De pullo et ovo“ – von der Henne und vom Ei“ lautet das letzte „Motto“ an diesem Abend. Unter einem Vorhang lugen neben den Füßen und Unterschenkeln der Polizisten zwei nackte Kinderbeine hervor. Die gesamte Aufführung war – mit Ausnahme des nachthemdartigen Gewands Gottes – in schwarz gehalten. Doch jetzt taucht ein weißer Messdiener auf: Ein neuer Heiland wird der Welt geboren. Feierlich überreichen die Polizisten dem unschuldigen Kind, dem neuen König der Welt, das Zepter seiner Macht: Es ist ein Schlagstock.
Tief durchatmend, aber auch tief beeindruckt geht man aus einer nachdenklich stimmenden, erschreckenden, aber künstlerisch perfekten Aufführung. Es wirkt wie ein Open End, wenn das Kind die gefährliche, zur Fortsetzung der Brutalität einladende Insignie seiner Macht in Empfang nimmt. Das Kind ist weiß gekleidet zum Zeichen seiner Unschuld. Das ist auch ein Zeichen der Hoffnung. Wie das Kind seine Macht gebrauchen wird? Aus historischer wie aus aktueller Erfahrung wissen wir: Auch der Kirche ist nicht zu trauen. Mit der Willensfreiheit ist es da auch nicht weit her; mit Demokratie auch nicht. Konformität wird großgeschrieben. Aber Castellucci flickt den Optimisten nicht ans Zeug: Besserung ist möglich. Genosse Putin hat dem Westen gerade gezeigt, dass man nur mit gutem Willen und Gutmenschentum nicht weit kommt. Ohne Abschreckung scheint der Frieden nicht erreichbar zu sein. Aber ein Erlöser mit Gummiknüppel? Oh Mann, schöne neue Welt!