Plädoyer für ein tolerantes Miteinander
Wajdi Mouawad wurde 1968 in Dair al-Qamar, einem Bergort im Libanon, geboren. Dort verbrachte er seine Kindheit. 1976 floh seine christlich-maronitische Familie vor dem Bürgerkrieg nach Frankreich und 1983 – mangels Bleiberecht – weiter nach Quebec. Mouawad wurde Autor, Regisseur und Schauspieler und lebt seit 2016 in Paris, wo er das Theatre National de la Colline leitet. Sein mehrsprachiges Stück Vögel (2018), ein Familienepos und eine jüdisch-arabische Liebesgeschichte, wurde schnell an mehreren Bühnen gespielt. Der Autor versucht, in seinen Stücken, so auch in Vögel, Gräben zu überwinden und all diese Schuldzuweisungen, wie sie im Nahost-Konflikt oft geäußert werden, zu vermeiden.
Matthias Gehrt inszenierte mit viel Einfühlungsvermögen seine letzte Regiearbeit am Theater Krefeld. Die Bühne ist nüchtern gehalten. Vorne an der Rampe stehen vier kleine Tische mit je einer Lampe, einigen Büchern und einem Stuhl. An der Bühnenrückwand lehnt eine hohe Leiter, deren Bedeutung offen bleibt. Eine Projektion zeigt uns die New Yorker Universitätsbibliothek, wo sich Eitan Zimmermann, Biogenetiker und Sohn des Israelis David und seiner aus einem kommunistischen Elternhaus in der DDR stammenden Frau Norah, und die arabischstämmige Wahida treffen. Sie schreibt an ihrer Doktorarbeit über Hassan Ibn Mohamed al Wazzan, einen vor 500 Jahren zwangsweise und deshalb nur äußerlich zum Christentum bekehrten Weisen, der Papst Leo X.als Geschenk überreicht wurde. Eitan hat seit zwei Jahren in dieser Bibliothek, egal, welchen Platz er eingenommen hat, immer dasselbe Buch vorgefunden: „Das Ableben bedeutender Persönlichkeiten und die Nachrichten über die Söhne der Zeit“ von dem Rechtsgelehrten Ibn Challikan. Nun endlich sieht er die Person, die dieses Werk studiert: Wahida. Das kann kein Zufall sein, meint er, dass sie sich für das gleiche Buch interessieren. Die beiden verlieben sich ineinander. Ihre so unterschiedliche und explosive Herkunft scheint für sie zunächst kein Hindernis zu sein. Die Zerreißprobe beginnt, als Eitan Wahida seinen Eltern, die in New York zu Besuch sind, vorstellt. Sein strenggläubiger Vater David lehnt sie strikt ab: „Nein. Sie ist keine Jüdin. Sie ist nicht aus unserem Kreis.“ Und er spitzt es noch zu, wenn er sagt: „Lebe dein Leben mit dieser Frau, und ich nenne dich den Mörder deines Vaters.“ Ungläubig und schockiert sammelt Eitan das Besteck vom Tisch, um die Speichelspuren einem genetischen Test zu unterziehen. Er will nicht mehr der Sohn dieses Vaters sein: „Leid wird nicht vererbt.“ Durch diesen Test stößt er auf ein Familiengeheimnis, das ihn veranlasst , mit Wahida nach Israel zu fahren, um dort seine Großmutter, die Vater und Großvater vor Jahren verließen, zu befragen. Eitan wird Opfer eines Selbstmordanschlags auf den Bus, in dem er saß, und liegt im Koma im Krankenhaus. Seine Eltern und sein Großvater reisen aus Berlin herbei. In Rückblenden erfahren wir mehr und mehr Details über diese Familie, die stellvertretend für den Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis steht.
Mouawad lässt die handelnden Personen in ihrer Muttersprache sprechen: Deutsch, Hebräisch und Arabisch. Was die Intensität des bestehenden Konfliktes noch verstärkt.
Gehrt kann sich auf ein exzellentes Ensemble verlassen. Katharina Kurschat als Wahida und David Kösters als Eitan stehen zweifelsohne im Mittelpunkt. Monika Lennartz besticht als scharfzüngige Großmutter Leah Kimhi, die gar nicht so „kalt“ ist, wie der erste Eindruck vermittelt. Joachim Henschke ist ein in sich ruhender Etgar, der Großvater. Bewegend, wie er seinen Sohn David (hervorragend: Christoph Hohmann) über die Umstände aufklärt, wie er vor langer Zeit als Soldat in Palästina zu diesem Knaben kam. Eine überaus überraschende Wendung, die hier nicht verraten werden soll. David, der nicht müde wird, Hasstiraden gegen die Araber loszufeuern, kann mit der für ihn schockierenden Wahrheit nicht leben und erleidet einen tödlichen Schlaganfall.
Immer wieder zeigen im Laufe des Abends TV-Einspielungen Berichte von brutalen Attacken christlicher Milizen bzw. israelischer Soldaten auf die Palästinenser.
Einen Kontrast dazu bietet die Legende, die der arabische Gelehrte erzählt. Von dem Vogel, den die Welt der Fische so reizt, dass er in sie eindringt… und ihm plötzlich unter Wasser Kiemen wachsen. Ein Bild einer friedlichen Utopie, die leider so wenig mit dem Nahost-Konflikt in Einklang zu bringen ist.
Ein überaus bemerkenswerter Abend, den man lange in Erinnerung behalten wird. Zu Recht frenetischer Beifall.