Was ist Heimat?
Akin Emanuel Sipal, 1991 in Essen geboren, studierte Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Neben Theaterstücken schreibt er Drehbücher für Kurz- und Langfilme. In der Spielzeit 2016/17 war Sipal Hausautor am Theater Mannheim, von 2017 bis 2019 Hausautor am Theater Bremen. Sein Stück Mutter Vater Land, uraufgeführt am Theater Bremen, wurde für den Mülheimer Dramatikerpreis 2022 nominiert.
Thema des spannenden Werkes ist die Suche nach der eigenen Identität, die Frage, wo man sich zugehörig fühlt. Was macht einen echten Deutschen aus? Kann man das zweifelsfrei klären? Wohl kaum.
Der Autor bzw. seine Suche wird von diversen Alter Egos verkörpert: der Sängerin Nihan Devecioglu, dem jungen Musiker Jan Grosfeld und dem Schauspieler Matti Weber. Obwohl in Deutschland geboren, ist der junge Mann (also der Autor), kein richtiger Deutscher, zumindest empfindet er diesen Zwiespalt. Häufiger erfährt er rassistische Reaktionen seiner Umwelt. Trotz deutscher, in Polen geborener Oma, die sich trotzig Schlesierin nennt (Irene Kleinschmidt) und deren Flucht im Ruhrgebiet endete. Trotz Heirat mit einem Türken, der in Münster Deutsch studierte und promovierte, betont sie ihre Abneigung gegenüber den Türken allgemein. Die Ehe besteht in einer Fernbeziehung, da der Opa unseres Protagonisten , ein gefeierter Kafka-Übersetzer, in Istanbul lebt. Siegfried W. Maschek überzeugt als eitler Literaturwissenschaftler, der eine sehr hohe Meinung von sich hat. Seine Versuche, Sohn und Enkel bei ihren Aufenthalten in Istanbul zu perfekten Türken zu machen, scheitern.
Der Abend beginnt mit Nihan Devecioglu, die an der hinteren Bühnenwand hoch oben auf einer Leiter sitzt und wie ein weiblicher Muezzin betörend schön singt. Sie beschreibt eine Utopie aus dem Jahre 2063: Die türkische Regierung hat die Schuld gegenüber Armenien und Griechenland gesühnt , Eriwan und Ankara sind mit einem Schnellzug verbunden, die PKK ist aufgelöst und eine kurdische Türkin ist Ministerpräsidentin. Und die Deutschen surfen bei Google, welche Dokumente sie brauchen, um in der Türkei bleiben zu dürfen.
Die Bühne ist schwarz. Vier Holzstege münden in der Mitte in einer Plattform. Links eine Telefonzelle, vielleicht eine Reminiszenz an den Kohlenpott, an das Wanne-Eickel in den 50er Jahren. Die Handlung findet in verschiedenen Jahren statt, es kommen immer wieder Zeitsprünge vor. Sie werden an einer Tafel angezeigt. So erfahren wir ein ganzes Kaleidoskop von persönlichen Erfahrungen, von interfamiliären Beziehungen, auch von wichtigen geschichtlichen Daten (z.B. 1980 der Militärputsch in der Türkei, es gibt keine Zeitungen mehr, dafür Folter und Hinrichtungen). Als Omas Fahrrad geklaut wird, steht für sie fest, es können nur Türken gewesen sein. Ihr Sohn (Matthieu Svetchine), der Vater des Protagonisten, versucht vergeblich, den Unsinn von Vorurteilen zu diskutieren.
Der Text ist höchst interessant, beleuchtet doch Sipal das Thema „Was ist meine wahre Identität?“ höchst vielfältig. Zuweilen auch mit witzigen Formulierungen wie „Mit welchem Ziel erschaffen wir Städte wie Wanne-Eickel?“. Der Autor hat das Stück geschrieben, um seine eignen Erfahrungen als deutsch-türkischer Bildungsbürger in Deutschland zu thematisieren. Die Inszenierung zieht sich, manchmal wird umständlich erzählt. Schön die Songs, die das Ganze kommentieren und strukturieren. So „Der Mond von Wanne-Eickel“ in voller Länge. Einen für viele Zuschauer neuen Aspekt vermittelt das Entsetzen der türkischen Familienmitglieder, die aus dem schönen Istanbul zuziehen und entsetzt über Dreck und Armut in Gelsenkirchen sind.
Insgesamt erleben wir einen Abend mit vielen Anregungen und mit durchaus einprägsamen und klugen Regieeinfällen,.Jedoch hätte die eine oder andere Kürzung die Gesamtaussage sicherlich nicht geschmälert.