Die Psycho-Tricks der Nazis
„Die Sonne ist ein kaltes Gestirn. Ihr Herz aus eisigen Dornen … Im Februar sind die Bäume tot, der Fluss ist versteinert, als speie die Quelle kein Wasser mehr aus … Die Zeit erstarrt … Dann ein Automobil, und noch eines, plötzlich Schritte, unsichtbare Silhouetten.“ - Die Sätze, mit denen der Schauspieler Lukas Holzhausen seinen knapp 75minütigen Monolog beginnt, sind auch die ersten Sätze der mit dem Prix Goncourt 2017 ausgezeichneten Erzählung des französischen Autors und Filmemachers Éric Vuillard. Sie wirken zunächst wie Poesie, dann wie der Beginn eines Krimis. Doch bei Vuillards „Die Tagesordnung“ handelt es sich um erzählte Geschichte. Auch die kann manchmal wie ein Krimi sein.
Vuillard erzählt vom Aufstieg Hitlers, von der Mediokrität seiner Gesprächspartner, von den Psycho-Tricks, mit denen sie beschwichtigt, beeinflusst oder auch brutal überfahren werden. Er erzählt vom Besuch von Lord Halifax bei Göring in Berlin, wo der Brite sich trotz der aufgeblasenen Lächerlichkeit und narzisstischen Egomanie seines Gesprächspartners, trotz des Wissens um dessen Morphiumsucht, dessen Depressionen und dessen Gewaltbereitschaft einwickeln lässt und zu Hause Verständnis für den deutschen Nationalismus und Rassismus äußert. Die Verharmlosung der Nationalsozialisten zieht sich wie ein roter Faden durch die politischen und persönlichen Reaktionen im Ausland, und man ist ratlos, wie das geschehen kann - bis es einem wie Schuppen von den Augen fällt: Man erkennt die Parallelen im Verhalten der Europäischen Union zu Vorkriegs-Russland. - Mag Lord Halifax bei Vuillard zu einer mittelmäßigen Figur verkommen, so berichtet Vuillard bald vom ebenso mediokren „Anschluss“ Österreichs, der noch heute in all unseren Köpfen als ein im Alpenland umjubelter, stolzer Einmarsch spukt, obwohl die Wahrheit eine ganz andere ist: Die Panzer blieben stecken wie heute die russischen Tanks vor Kiew; Hunderte von österreichischen Bürgern begingen Selbstmord aus Furcht vor der nationalsozialistischen Herrschaft.
Es sind die gut recherchierten Informationen, die es nicht in die Geschichtsbücher geschafft haben, auf denen Vuillards brillante Erzählung basiert, und man darf sich fragen, warum sie nicht oder kaum weitererzählt wurden. Da ist der 20. Juli 1933, mit dem das Buch beginnt. Kurz nach der Machtübernahme ist es, wie man heute sagen würde, ein Fund Raising Event der Nationalsozialisten, allerdings nicht mit Pomp, Duck und Circumstance, sondern als Geheimtreffen von 24 führenden Vertretern der deutschen Wirtschaft mit Adolf Hitler und Hermann Göring. Hjalmar Schacht, der vier Wochen später zum Reichsbankpräsidenten ernannt wird, hat das Treffen organisiert: Schacht, als einer der Hauptangeklagten bei den Nürnberger Prozessen in allen Anklagepunkten freigesprochen, war seit langem ein Unterstützer der Nationalsozialisten. Unter den Teilnehmern war alles, was Klang und Namen hatte in der deutschen Industrie (und ihren Familien): Gustav Krupp, Wilhelm von Opel, Günther Quandt, Friedrich Flick, Ernst Tengelmann, Fritz Springorum, Hugo Stinnes, August von Finck und viele andere mehr - das Who is Who der deutschen Wirtschaft vor, während und nach der nationalsozialistischen Herrschaft. Der Führer präsentiert sich entspannt, lächelnd, leutselig, und die Industriellen öffnen großzügig die Schatullen ihrer Unternehmen, so wie sie es nach dem Krieg wieder tun werden, dann halt für andere Parteien. Es sind weitgehend dieselben Männer, dieselben Unternehmen, denen wir unser Wirtschaftswunder verdanken - solche Geschichten aus der Vergangenheit holt man da nicht hoch…
Entspannt, lächelnd, leutselig? Ganz anders tritt Hitler später dem österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg gegenüber, den er „auf den Obersalzberg zitiert“ hat. Schuschnigg, selbst ein Mann mit autokratischen Allüren, wird angebrüllt, erniedrigt, vorgeführt und für ein nichtssagendes Gespräch mit Keitel zur Randfigur degradiert - die Methoden erinnern an die Bilder aus dem Kreml, an den langen Tisch, mit Hilfe dessen der russische Präsident seinen in- und ausländischen Gesprächspartnern demonstriert, was er von Augenhöhe hält. War gerade noch von den Phantasie-Uniformen des Reichspropagandaministers die Rede, so geht Vuillards Blick bald in die Traumfabrik nach Hollywood, wo der Jude Günther Stern als Requisiteur im Custom Palace arbeitet. Dort sind bereits lange vor der Schlacht von Stalingrad, lange vor den Top Acts des Zweiten Weltkriegs die Kostüme der Nazis auf Lager, die Stiefel der SA. Die Ironie des Ganzen, schreibt Stern in seinen Tagebüchern, besteht darin, dass in Hollywood ein Jude den Nazis die Stiefel poliert.
Staunend, mit Witz und Ironie, bisweilen auch mit Wut, aber auch mit historischem Detailwissen schaut Vuillard aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel auf die dunkelsten Jahre deutscher Geschichte. Dabei schmückt er literarisch aus und schafft mit wenigen Worten großartige, zugespitzte Portraits der mediokren Männer in ihren wichtigen Positionen. Oft entfaltet der Text poetische Qualitäten, dann wieder (oder sogar gleichzeitig) ist er ein sarkastischer Kommentar der Zeitgeschichte, als solcher durchaus auch mit subjektiven Reflexionen. Wie schon in „Congo“ (Text dazu siehe hierhttp://theaterpur.net/theater/schauspiel/2019/09/ruhrtriennale-congo.html) neigt Vuillard gelegentlich dazu, kommende Generationen einer Familie oder einer Firmen-Dynastie in Sippenhaft zu nehmen - geschenkt, denn diese (fast einzige) Schwäche der Erzählung tritt in der Inszenierung vom Schauspiel Hannover, die jetzt bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gastierte, in den Hintergrund. Vuillards Text ist brillant - aber Lukas Holzhausen erweckt ihn erst richtig zum Leben. Er spielt noch die empörendsten Momente ohne jede Aggressivität, dafür mit einer gewissen Eleganz und einem untrüglichen Gespür für die filmischen Qualitäten der Erzählung. Wer die Augen schließt, sieht die Ereignisse wie in einem Film vorbeirollen, gestochen scharf und in HD. Dabei nutzt Holzhausen nichts als den Original-Text Vuillards; nur im Moment des Einmarschs der Deutschen in Österreich erklingt einmal ein beschwingter Wiener Walzer. Denn: „Es ist eine Hochzeit, keine Vergewaltigung.“
Vuillards Text drängt geradezu ins Kino oder - wohl besser noch - ins Theater. Die eingangs zitierte Sequenz, die Poesie und Krimi-Genre miteinander verbindet, geht wie folgt weiter: „Der Inspizient hat dreimal mit dem Stab geklopft. Noch ist der Vorhang nicht aufgegangen.“ Regisseur Oliver Meyer hat den Vorhang aufgezogen. Ein herausragender Text hat mit Lukas Holzhausen seinen kongenialen Schauspieler gefunden, und ein kleiner Theaterabend (fast) ohne Requisiten wird zum Ereignis.