Übrigens …

Endstation fern von hier im Stadtarchiv Düsseldorf

Deportation und Zwangsarbeit

Langsam setzt sich die historische Straßenbahn in Bewegung. Die Fahrgäste haben die Kopfhörer aufgesetzt. Der Komponist und Mitleiter des Asphalt Festivals Bojan Vuletic ist für die Musik und den Sound auf dieser Reise in die düstere Düsseldorfer Vergangenheit zuständig, also vermutlich auch für die Collage von Stimmen, die sich in den Ohren der Straßenbahnfahrer einnisten. „Man hat uns nicht gesagt, wohin…“, lautet der erste Satz, der immer neu wiederholt wird, kanonartig, chorisch - vielstimmig, obwohl nur von einer Stimme gesprochen. Die Unsicherheit der Sprecherin dringt unmittelbar ein in die Seele der Zuhörer. Die sind ja auch verunsichert. Die meisten wissen zwar, wo es hingeht - schon im Vorfeld der Premiere hatte es viele Berichte über das neue Projekt des Theaterkollektivs Pièrre.Vers gegeben -, aber was wird mit ihnen passieren, wenn sie im Rahmen der „immersiven Stadtbewegung“ des Kollektivs den Spuren der Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkriegs in Düsseldorf folgen?

Die Geschichte von Valentina steht im Zentrum des einerseits aufklärerischen, andererseits aber auch erschütternden Abends. Die 17jährige Ukrainerin befand sich auf der Krim, als Adolf Hitler am 22. Juni 1941 (am Premierentag vor 81 Jahren) das „Unternehmen Barbarossa“ startete: den Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion. Der Überfall auf Polen ist knapp zwei Jahre her - niemand hat gedacht, dass sich der Krieg weiter nach Osten erstrecken werden würde. Der eine oder andere Gast in der Straßenbahn denkt an den 24. Februar dieses Jahres - hat irgendjemand gedacht, dass der größenwahnsinnige Führer des russischen Reichs seine Fühler soweit nach Westen ausstrecken würde, bis nach Kiew und nach Zhytomir? Dass er gar Infrastruktur- und Militärprojekte nahe Lviv an der polnischen Grenze angreifen würde?

Einerlei, Valentina (Julia Dillmann) berichtet zum ersten, aber nicht zum letzten Mal an diesem Abend von dem Stolz, der Arroganz und der Rücksichtslosigkeit der NS-Soldaten, von den Schikanen, denen die überfallene heimische Bevölkerung ausgesetzt wird. Das wird sich später in Deutschland wiederholen: Valentina hat in der Schule Deutsch gelernt, übersetzt für die Soldaten - und wird vielleicht deshalb später zu einer Gruppe von Zwangsarbeitern gehören, die nach Deutschland deportiert werden, während viele ihrer ukrainischen Freundinnen erschossen werden. Valentina, die Medizin studieren wollte, wird Arbeiterin bei der DUEWAG, der Waggonfabrik in Düsseldorf, die Straßenbahnwagen herstellt und repariert. Illusionen hat sie bald nicht mehr.

Die historische Bahn ist mittlerweile in den ehemaligen Betriebshof der Rheinbahn „Am Steinberg“ eingefahren. Aus den Fenstern erblickt man ärmlich gekleidete Arbeiter - andere Zwangsarbeiter, die von einem Wachmann (Alexander Steindorf, später als Oberaufseher Holzapfel Paul Jumin Hoffmann) angetrieben und überwacht werden. So ähnlich dürfte es Valentina, dürften es die Neuankömmlinge unter den Zwangsarbeitern bei ihrer Ankunft auf dem Firmengelände erlebt haben. Als Untermenschen müssen sie erstmal zur Entlausung. In der Fabrik erleben Valentina und ihre Kolleginnen und Kollegen ein Regime der Angst.

Das Publikum wandert nun von Station zu Station durch die historischen Hallen des alten Straßenbahn-Depots, das mittlerweile eine Ausstellung über die Geschichte der Rheinbahn beherbergt. Selbstverständlich werden die alten, lichtdurchfluteten Hallen mit ihren historischen Bahnen, Plakaten und Büros selbst zu Stars der Aufführung, vor allem aber sind sie eine perfekte Kulisse für Valentinas Geschichte. Die wird ergänzt um historische Daten und Fakten sowie um die Erfahrungen anderer Zwangsarbeiter, die die Mitglieder des Theaterkollektivs (außer den bereits namentlich Erwähnten gehört noch die meist selbstbewusst agierende Anna Beetz dazu) in die Geschichte einflechten. Echte Spielszenen sind eher rar, aber die permanente, über die Kopfhörer erfolgende Infiltration des Gehirns mit den Grausamkeiten, Schikanen und Erniedrigungen, denen die Zwangsarbeiter ausgesetzt sind, verfehlt ihre Wirkung nicht. Zudem wird die Vorstellungskraft angeregt von dem sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzten Sound von Bojan Vuletic sowie von einer perfekt gecasteten Statisterie.

Da wird versucht, mit Menschenkraft schwere Bahnen anzuheben, da setzen sich die Statistinnen und Statisten lachend in eine Bahn und simulieren das unbeschwerte Stadtleben der Deutschen, die höchst unterschiedlich auf die Zwangsarbeiter reagieren. Die meisten schauen weg oder machen verächtliche Gesten oder Bemerkungen, aber während die Soldaten und vor allem die NS-Funktionäre noch im sich abzeichnenden Untergang die Attitüde der Herrenmenschen nicht ablegen, glaubt Valentina bei manchen Menschen auch Mitleid und eine scheue, von Angst begleitete Sympathie zu spüren. Selten, denkt man, lagen wohl Scheu und Abscheu so nah beieinander. Scheue Blicke sind es auch, mit denen eine unter den gegebenen Umständen gefährliche Romanze beginnt: Unter Lebensgefahr beginnt Valentina sich mit dem LKW-Fahrer Hans zu treffen. Die Liebenden werden irgendwann erwischt, aber wie durch ein Wunder lässt man sie laufen.

Unmittelbar nach Kriegsende heiraten Hans und Valentina: Nach wenigen, unter Gefahren absolvierten Treffen war Valentina schwanger geworden. Noch immer geht es nicht um Glück, sondern um den rationalen Umgang mit einem unerbittlichen Schicksal. Die Ukrainerinnen und Ukrainer, die in ihre Heimat zurückkehren, werden als Volksverräter beschimpft und schlimmstenfalls erneut in Lager gesteckt - diesmal in sowjetische Arbeitslager. Ein halbes Jahr sollte ihr Einsatz „außerhalb der besetzten Ostgebiete“ dauern, hatte man Valentina bei ihrer Rekrutierung vorgespiegelt. Erst nach 18 Jahren kehrte sie zurück, heimatlos, unbehaust. Spätestens jetzt, an diesem lakonischen Ende einer großen kleinen Geschichte ist man als Zuschauer von seinen Gefühlen überwältigt. „Geschichte ist die Summe der Geschichten von Überlebenden“, heißt es zum Abschluss. „Aber was ist, wenn sie nicht erzählt werden?“

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Die Wiederaufnahme der Produktion findet in Kooperation mit dem düsseldorf festival am 4., 5., 7., 9., 10. und 11. November um jeweils 18:00 Uhr statt