Der schöne Augenblick, ob er verweilt?
Bei Goethes sind sie ganz schön runtergekommen. Den Teppich und die Bühnenrückwand schmückt ein primitives, stilisiertes Blümchenmuster; ansonsten stehen ein paar billige Plastikstühle und ein ebensolcher Tisch herum. Man sollte denken, eine Frau wie Stella, die sich immerhin eine Gesellschafterin leisten kann, müsse Kohle genug haben, um sich in der gehobenen Gastronomie umzutun, aber dieses Etablissement („Im Posthause“, wenn man Goethe glauben soll) riecht nun wirklich nicht nach Geld. Immerhin: Das Gasthaus, das die schicke Stella in Wuppertal besucht, hat einen Wirt, der literarisch gebildet ist – oder sagen wir mal: der über ein bemerkenswertes Gedächtnis für gereimte Sentenzen aus Literatur und Volksmund verfügt. Germain Wagner hat eine Menge Text, aber seine Konversation besteht fast ausschließlich aus Zitaten. Die aber passen wie Faust aufs Auge. Der ausgeglichen und freundlich wirkende Mann, der ziemlich sicher mehr Durchblick hat als er seinen Gästen gegenüber zu erkennen gibt, ist schon eine Show.
In seiner Stube spielt sich ab, was der geile Goethe als Liebes-Utopie für das 18. Jahrhundert formulierte, seine prüden Zeitgenossen jedoch so skandalös fanden, dass das Stück erst im 19. Jahrhundert reüssierte – nachdem es nämlich zum Trauerspiel umgearbeitet wurde und einen völlig veränderten Schluss verpasst bekam. Das Thema ist uns alles andere als fern, aber im 21. Jahrhundert so banal und selbstverständlich, dass das Stück kaum noch gespielt wird: Zwei Frauen lieben den gleichen Mann; der aber hat sie beide verlassen, und am Ende findet sich die Lösung in einer toleranten, für den Gockel vielleicht auch sehr komfortablen Ménage à trois. Wie gesagt: Sowas ging gar nicht in den Zeiten vor der 1968er sexuellen Revolution, und so machte sich der arme Goethe dreißig Jahre nach der Urfassung daran, das glückliche Ende umzugestalten. Aus dem feuchten Männertraum des Liebeslebens mit zwei Frauen wurde ein Drama, in dem sich der Mann am Ende erschießt und Stella trauernd dahinsiecht. Das Publikum schluchzte gerührt in die Taschentücher: Es sage niemand, der Goethe könne Frau Courths-Mahler nicht das Wasser reichen…
Fernando heißt der Knabe, dem die Sehnsucht der Damen gehört, und der ist ein „schöner langer Offizier“. Der Wuppertaler Schauspiel-Intendant Thomas Braus gibt den Mann zwischen zwei Frauen höchstpersönlich: schwärmerisch, ein bisschen schwülstig und oftmals ziemlich überkandidelt. Er kann charmant und sachlich, aber immer wieder dreht er an der Schraube der Gefühle. Oder sagen wir so: Die Gefühle überwältigen ihn derart, dass er ziemlich verschraubt wirkt, wenn er von Liebe, Versagen oder schlechtem Gewissen redet. Ob es das ist, was dazu führt, dass die Damen ihn nie vergessen können? Stella, seine ehemalige Geliebte, bei Nora Koenig eine honorige und beherrschte, aber doch auch gefühlsbetonte Person, verzehrt sich nach ihm noch drei Jahre, nachdem er sie sitzengelassen hat, und Julia Wolff als Fernandos im Vergleich zu Stella introvertiertere, nachdenklichere Gattin Cäcilie trägt noch viele Jahre nach dem Abflug des treulosen Ehemanns zwar elegante, aber freudlos dunkle Klamotten. Dabei würde sie in hellen Frühlingstönen doch so viel jünger und hübscher wirken, wie wir sehen werden, als sie sich endlich befreit von ihrem Kummer …
Wie dem auch sei: Fernando will Stella wiedersehen – und trifft unverhofft auf seine Ex nebst gemeinsamer Tochter Lucie, die sich bei Stella als Gesellschafterin verdingt hat und gerade ihren Dienst antreten will. Und was geschieht mit dem schönen langen Offizier? Halb zieht es ihn, halb sinkt er hin, bloß ob nach links oder nach rechts, das weiß er nicht genau. Als Offizier von Ehre entscheidet er sich für Frau und Tochter, in inniger Umarmung mit der geliebten Stella. Die honorige Cäcilie gibt ihn dagegen frei. Wie sowas ausgehen könnte, haben wir ja schon ausgiebig erläutert: mit Liebe zu Dritt oder Erschießen und Kummertod. Aber kann es das wirklich sein, fragt Regisseur Stefan Maurer und sucht am Schauspiel Wuppertal nach einem neuen Schluss, einer neuen Utopie – oder, wie die Dramaturgin Barbara Noth schreibt, nach der „Idee der Freiheit, der Lässigkeit und des Loslassens.“ Versuch macht klug, doch das Schauspiel Wuppertal bleibt skeptisch: Der Schüsse fallen viele, und die Auferstehungen sind zahlreich. In hohem Tempo spielt das Schauspiel Wuppertal Utopie und Tragik durch, in immer neuen Varianten bzw. mit vielen Wiederholungen. Schluchzen muss da keiner. Natürlich gibt es die wunderbare Lösung der Liebe zu Dritt. „Werd‘ ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön…“, schmunzelt da der Wirt. Aber er verweilt nicht, der Augenblick. In der Ménage à trois genauso wenig wie in den meisten traditionellen Liebesbeziehungen.
Die eigentliche Powerfrau ist in Wuppertal aber des feschen Fernandos selbstbewusste Tochter, „sehr jung und schnippisch“, wie der Wirt zu berichten weiß. Leider spielt die junge Dame in den Schluss-Varianten keine Rolle, so dass die interessante Charakterzeichnung von Maditha Dolle alias Lucy am Ende verpufft. Dolles Lucy hätte Goethe die Hölle heiß gemacht ob seiner Bigamie-Phantasien; sie hätte den Spieß allenfalls umgedreht. Schon früh weist sie auf die merkwürdige Heroisierung der Frau in der (damals siebzehn sechsundsiebzig) ausschließlich von Männern geschriebenen Literatur hin: In Wirklichkeit seien die Damen ja doch alle unglücklich. Lucie aber ist keinesfalls schnippisch oder unglücklich, sondern einfach gut gelaunt, schlagfertig und feministisch. Auch sie hat zahlreiche kesse Sprüche drauf, so dass ihr gemeinsam mit Germain Wagner als Wirt die spritzigsten Momente der unterhaltsamen, nur 90 Minuten kurzen Inszenierung gehören.
Stefan Maurer lässt keinen Zweifel an seiner Zuneigung zu allen Figuren und inszeniert zugewandt und humorvoll, wenn auch nicht gar so spottlustig wie der Plot hier geschildert wurde. Manchmal wirkt die Inszenierung geradezu klassisch. Aber zwischen den Akten dreht die Musik auf; Stella tanzt, Lucie tanzt, und die sonst so beherrschte Cäcilie zappelt in einem wilden Workout. Da will heraus, was eingesperrt ist in Körpern und Konventionen. Im meist doch eher kontrollierten Spiel ist es allenfalls der Wein, der – vergeblich – zur Lösung der Verspannungen von Körper, Geist und Seele zu Hilfe gerufen wird: „Wenn der Körper ein Kerker ist, / Warum nur der Kerker so durstig ist?“, zitiert der wieder mal verschmitzt schmunzelnde Wirt aus dem West-östlichen Divan. Neben Nicolas Charaux‘ kluger, aber auch herausragend witziger „Faust“-Inszenierung hat das Schauspiel Wuppertal eine weitere gelungene Aufführung eines Goethe-Dramas im Repertoire.