„Wo Leid ist, ist auch Geld“
„Düsseldorf, make some noise!“ Der Anfang wirkt, als sollte das Publikum auf eine große Show eingestimmt werden, Animation inklusive. Laura Uhlig, Jonas Anders und die für den erkrankten Günter Schaupp eingesprungene Ruth Marie Kröger schäkern miteinander, Lametta fliegt, und so beiläufig wie öffentlich finden sich die Schauspieler in erste Rollen: den Arzt zum Beispiel, oder den Apotheker. Und wer gibt die Patienten?
Ups, da fällt uns auf, dass wir in einem riesigen Wartezimmer platziert wurden. Ärzte, Apotheker, Investigativ-Journalisten wuseln um uns herum. Einige – wie zum Beispiel der Journalist und Publizist Oliver Schröm, der Vorsitzende der Arzneimittelkommission Wolf-Dieter Ludwig oder der Experte von der Stiftung Arzneimittelsicherheit und ehemalige Apotheker Franz Stadler - sprechen nur von den TV-Bildschirmen zu uns, die an den beiden Wänden gegenüber den Wartezimmer-Stühlen angebracht sind. Schröm hat wie schon bei einigen früheren Projekten, derer sich Helge Schmidt und sein Team vom Lichthof Theater Hamburg angenommen haben, brisante Fakten recherchiert, auf denen Schmidts Aufführung basiert, und tritt quasi als TV-Experte in der Theateraufführung auf. Wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, fungieren wenn nicht als echte, so doch als potentielle Patienten. Denn das sind wir alle, wenn man bedenkt, dass nach Angaben des Robert Koch Instituts in Deutschland annähernd 500.000 Krebserkrankungen pro Jahr neu diagnostiziert werden.
Krebs ist wohl eine der Krankheiten, vor der wir alle am meisten Angst und Respekt haben, weil sie mit großem Leid verbunden ist. Und: „Wo Leid ist, da ist auch Geld“, weiß Laura Uhlig. Die Krebsbehandlung und –therapie ist ein riesiges Geschäft. Und wo Geld lockt, ist auch die Gefahr des Betruges besonders hoch. Regisseur Helge Schmidt, der auch der Autor dieses Abends ist, hat sich seit vielen Jahren auf ein Dokumentartheater spezialisiert, das mit Investigativ-Journalisten zusammenarbeitet und die ganz großen Themen anpackt. Schmidt beschäftigt sich in seinem jüngsten Projekt mit den kriminellen Machenschaften rund um die Krebsbekämpfung, mit Korruption und Kickback-Zahlungen zwischen Ärzten und Apothekern, mit überreichlich dimensionierten Ampullengrößen, mit gepanschten und somit wirkungslosen Medikamenten. In NRW noch gut bekannt und von Schmidt ausführlich dokumentiert ist der Fall des Bottroper Apothekers Peter Stadtmann, der durch gepantschte Zytostatika einer Vielzahl von Patienten die potentielle Genesung verweigerte und dessen Kaufmännischem Leiter Martin Porwoll sowie seiner Mitarbeiterin, die sich als Whistleblower verdient gemacht hatten, fristlos gekündigt wurde. Doch Schmidt prangert nicht nur den Betrug am Patienten, sondern auch den am Sozialsystem an, das auf vielfältige Weise geschädigt wird, und er stellt die Frage nach der Mitverantwortung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems – da liegt die Gefahr der Überfrachtung einer knapp 90minütigen Aufführung nahe.
Tatsächlich hat sich Schmidt tief in die Materie eingearbeitet und bringt nahezu jedes Detail auf der Bühne zu Gehör. Er erläutert die Funktionsweise der Chemotherapie, erklärt, warum für Zytostatika die freie Apothekenwahl der Patienten aufgehoben ist, rollt in großer Ausführlichkeit einzelne Krankengeschichten auf. Er sucht nach Ursachen und Lösungswegen: Wenn er den allzu langen Patentschutz auf neu entwickelte Medikamente anprangert und die sofortige Zulassung von Generika fordert, ist er sich bewusst, dass im Gegenzug eine massiv erhöhte Förderung von Forschung und Entwicklung erfolgen muss. Manches mag für das Verständnis der Betrugsmechanismen unerlässlich sein. Schmidt und sein Team lassen keinen Aspekt unbearbeitet und keine Frage unbeantwortet. Die Relevanz all dieser Fragen ist unbestritten. Für eine Theateraufführung ist das dennoch manchmal ein wenig zu viel des Guten (respektive Schlechten): Zwangsläufig kommt die Aufführung phasenweise drüsch daher.
Dieser Gefahr ist sich Schmidt offensichtlich bewusst gewesen. Aber die showähnlichen, unterhaltsamen Einlagen, mit denen die Aufführung begonnen hatte, bekommen im Zuge der Aufarbeitung immer komplexerer Zusammenhänge Seltenheitswert. Immer wieder interessant, weil so skurril, sind allerdings Frieder Heptings Gesänge: Hinter einem Lamellenvorhang, der für seine Auftritte aufgezogen wird, interpretiert der Musiker Gesetzestexte oder auch die Reflexionen eines Korruptionsanfälligen mit Gesang und E-Piano-Klängen. Auch als die Akteure einmal kurz über ihre eigenen Ängste und Erfahrungen mit dem Thema Krebs berichten, merkt man auf: Persönliche Betroffenheit bricht den Sachbuch-Charakter der Aufführung auf. Doch ganz schnell sind diese Szenen wieder vorbei: Man glaubt die Furcht des Regisseurs zu spüren, dass die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit seines Themas leiden könnte, wenn zu viele individuelle Perspektiven in die sachliche Fakten-Aufarbeitung einfließen würde. Vermutlich wäre das Gegenteil der Fall gewesen: Die Fakten sind empörend genug.
Dass nicht überall betrogen wird, weiß Schmidt auch. Einmal erwähnt die Aufführung, dass die gnadenlose Aufdeckung krimineller Machenschaften sogar zur Verunsicherung von Patientinnen und Patienten führen könne. Aber Publikum und Theatermacher dürften sich darin einig sein, dass das Nachdenken über das Betrugspotential des gegenwärtigen Systems von hoher Dringlichkeit und Relevanz ist.