Eros und Thanatos auf der kohlschwarzen Bühne der Jahrhunderthalle
Das weite Land lässt die Intendantin der Ruhrtriennale Barbara Frey in ihrer Inszenierung auf einen schmalen dunklen Bühnenstreifen schrumpfen. Drei schwere, gealterte Clubsessel stehen weit voneinander entfernt auf dünnem Kohlenstaub. Dahinter ein schwarzer Vorhang, der erst in der letzten Szene den Bühnenraum freigibt. Bis dahin bleibt nur dieser schmale, dunkle Raum, auf dem sich ein beklemmender Totentanz der Worte abspielt. Es geht ums Altern, um Selbstbetrug und Sterben, um begehrliche Lust, die in tödliche Gewalt umschlägt. Es ist großes Schauspiel, wobei die Brisanz im Text liegt. In seiner Tragik und Komik, die bravourös präsentiert werden.
Doch bevor Schnitzler zu Wort kommt, hören wir Texte (möglicherweise) aus dem Entomologischen Lexikon. Es geht um Insekten, Larven und Käfer, um ihre zersetzende Wirkung auf Leichen nach der Erdbestattung. Ein bisschen ekelig und überflüssig. Dabei wird der Vorhang durchscheinend und gibt den Blick auf einen Trauerzug frei. Menschen in Schwarz mit Blumensträußchen in der Hand. Später sitzen drei Frauen in den Sesseln und tauschen Gerüchte aus zum Tod des zu Grabe Getragenen: der junge Musiker Korsakow soll Selbstmord begangen haben. Dabei fallen Sätze, die sich als Behauptungen durchs Stück ziehen, etwa dass „Künstler alle anormal“ seien und das Leben schon „eine komplizierte Einrichtung“ sei.
Eine der Frauen im engen Kleinen Schwarzen ist Genia Hofreiter (streng und bis auf eine Szene emotionslos gegeben von Katharina Lorenz), die Ehefrau des Glühbirnenfabrikanten Friedrich Hofreiter, der ständig fremdgeht, „der sich von jedem nimmt, was ihm gerade zusagt“, der Liebschaften produziert wie Glühbirnen, wenn dabei auch zweifellos mehr Dunkel als Licht entsteht. Er ist die Hauptfigur. Michael Maertens gibt diesen alternden Herzensbrecher grandios: erschöpft und bedroht vom Sturz ins Leere sucht er nach Auswegen. Macht der jungen Erna spontan einen Heiratsantrag und wird auf „später“ vertröstet, auf ein „Später“, das es für ihn vermutlich nicht mehr gibt. Resigniert beklagt er, dass es „dumm eingerichtet ist auf der Welt, mit vierzig Jahren sollte man jung werden, da hätte man erst etwas davon.“ Was witzig klingt, ist zugleich rücksichtslos, denn Erna ist die große Liebe von Dr. Mauer (brav und gradlinig gespielt von Itay Tiran), den Hofreiter für seinen einzigen Freund hält.
Hofreiters Altersfurcht verbindet sich zutiefst mit der Missgunst gegenüber der Jugend, die eben die für ihn verlorene Zukunft noch vor sich hat. Doch im Gegensatz zu seiner Verlorenheit scheint seine Frau Genia den Kontakt zur Jugend noch zu finden. Gleich im ersten Akt bestürmt er sie in einer großen Szene mit der Frage, ob der verstorbene junge Musiker Korsakow ihr Geliebter gewesen sei. Er fordert eine Antwort, ob Lüge oder Wahrheit. „Ich schau dich nur an“, weicht sie aus und er fühlt sich durchschaut, gedemütigt. Dann erfährt er die Wahrheit: Korsakow tötete sich, weil sie ihn nicht erhörte. Zynisch und manipulativ erklärt er sie zur Schuldigen, wenn auch schuldlos-schuldig, da sie ihn hätte retten können. In Variationen zieht sich die Beschuldigung durch das Stück. Für Genia stellt sich allerdings weniger die Frage nach einer persönlichen Schuld, als die nach ihrem ehelichen Verhalten. Soll sie dem untreuen Ehemann seine Eskapaden verzeihen oder nicht? „Vielleicht ist es überhaupt die höhere Art von Liebe, wenn man nicht verzeiht“, sinniert sie ziemlich trocken vor sich hin.
Unter all den Menschen, die sich und andere betrügen, die dabei in ihrer Welt zu erstarren drohen oder verloren gehen, taucht ein Paar auf, das sich befreit hat, das Konsequenzen seines Handels zog, sich scheiden ließ: Dr. Aigner und Frau Meinhold-Aigner. „Dass ich sie so sehr liebte und trotzdem fähig war, sie zu betrügen, das machte sie irre an mir und an der ganzen Welt. Nun gab es überhaupt keine Sicherheit mehr auf Erden, keine Möglichkeit des Vertrauens“, erklärt Dr. Aigner. Eine überzeugende Idee von Barbara Frey ist es, diese beiden Menschen von einer Schauspielerin spielen zu lassen, von der phantastischen Bibiana Beglau, der es gelingt, die beiden als ein kraftvolles, sich ergänzendes Paar glaubhaft zu machen. So ist sie es auch, die als Dr. Aigner den zentralen Satz des Stückes sagt: „Wir versuchen, wohl Ordnung in uns zu schaffen, aber diese Ordnung ist doch nur etwas Künstliches. Das Natürliche ist das Chaos, ja die Seele ist ein weites Land“. Und tatsächlich scheint Eros kurz die Bühne zu streifen, wenn Frau Meinhold die kühle Genia herzlich umarmt.
So ist es auch der Sohn der beiden Aigners, der Fähnrich Otto, jungenhaft gespielt von Felix Kammerer, mit dem Genia eine Affäre beginnt, wohl eher um ihrem Mann Gleiches mit Gleichem zu vergelten, als aus Leidenschaft. Doch dann ist es Friedrich, über dessen Affären offen gesprochen wird, und die wie selbstverständlich folgenlos akzeptiert werden, der den jungen Mann zum Duell fordert und tötet. Er zerstört die Jugend der anderen, die er selbst nicht mehr hat. Genia bricht zusammen: „Aus!“ stöhnt sie. Wieder ist ein junger Mensch sinnlos gestorben. Thanatos streift die Bühne. Der Vorhang reißt auf, ein riesiges Rad fräst sich in das Gestein einer Berglandschaft.
Während sich die Dialoge vor dem Vorhang abspielen, entfaltet sich dahinter immer wieder während der Aufführung in kurzen Szenen das normale Leben: man spielt Tennis oder wandert in die Berge in einer Art Schattenreich. Durch Lichteffekte wird der Vorhang vorübergehend ganz oder teilweise transparent, aus dem Nichts tauchen die Figuren auf der Vorderbühne auf oder verschwinden wieder in den Falten der Gazewand. Bis zur letzten Szene, in der er den Blick freigibt in eine zerstörte Landschaft.
Arthur Schnitzler, der Arzt und Schriftsteller, liefert eine nüchterne Diagnose seiner Zeit. Die Tragikomödie, die 1910 in Petersburg uraufgeführt wurde und auf Deutsch ein Jahr später gleichzeitig in Berlin, Breslau, München, Leipzig, Hannover, Bochum und Wien gespielt wurde, liefert das Bild einer verlorenen Gesellschaft, die jeden moralischen Kompass verloren hat.