Wildfire Road im Bonn, Theater

Chillen, bis das Wasser kommt

Es gibt immer ein paar, die knapp davonkommen." Ein Flugzeug wird entführt; es wird zur Notlandung in Sibirien gezwungen. Die Entführerin entpuppt sich als eine Abgesandte aus der Zukunft. Sie weiß mehr als die Passagiere. Und sie hat gute Absichten. Denn während das Flugzeug auf dem Weg nach Tokio ist, hat die Klimakatastrophe einen neuen Höhepunkt erreicht. Italien steht in Flammen. Lauffeuer („Wildfires") sind ausgebrochen, in Apulien zuerst, mittlerweile haben sie die Alpen überquert. „Die Luft ist schwarz von Rauch und Vögeln.“ Die Gletscher schmelzen, Wirbelstürme verwüsten das Land, der Meeresspiegel steigt unaufhaltsam. Sibirien könnte vorerst die Rettung sein - inmitten der größten Landmasse der Erde.
Oder ist alles ganz anders? „Etwas Merkwürdiges geht mit der Zeit vor sich“, stellt Dave fest – ein guter Punkt, wenn Wesen aus der Zukunft als rettende Entführer auftauchen. „Was, wenn wir uns alle auf einer Flugroute befinden und unserem Ziel entgegensteuern?“ – Die Passagiere wollten ganz real nach Tokio, soviel scheint sicher. Wahlweise schmunzelt man oder schwelgt in Erinnerungen, wenn man die zahlreichen, sehr unterschiedlichen Motivationen der Fluggäste für ihre Reise hört. Aber ist nun Sibirien das Ziel? Oder ist das Ziel etwas ganz anderes, etwas, das nicht geographisch, sondern biographisch zu verorten ist? Ist das Ziel gar die Transformation in eine ganz andere, neue Welt, eine Welt ohne Flächenbrände, ohne Wildfires, mit intakten klimatischen Gegebenheiten? Vielleicht ist das Ziel eine bessere Welt in der Zukunft, und Sibirien ist nur eine – selbst schon nicht mehr ganz reale - Zwischenstation zum Umsteigen. Wenn Sören Wunderlich auf der Werkstatt-Bühne des Bonner Theaters ein- oder zweimal in einer Art Raumfahrer-Anzug auftaucht, könnte er ein Wesen von einem anderen Stern sein, ein Wesen aus der Zukunft. Andererseits: Raumfahrer-Anzüge sind auch Schutzanzüge. Und Schutz könnten wir bald gebrauchen angesichts der immer extremeren klimatischen Bedingungen. Sonst ist das Ziel das Ende unserer Reise – als Menschen, als Gattung.

Es gibt immer ein paar, die knapp davonkommen. Mariella und Dave gehören dazu, zumindest vorerst. Sandrine Zenner und Sören Wunderlich liegen in der Werkstatt des Bonner Schauspiels auf einer kleinen grünen Insel im Gras – ein ganz normales, sympathisches Paar am Beginn einer hoffentlich harmonischen Beziehung. Wenn wir als gute Feen aus der Zukunft nur wenige heutige Erdenbürger retten dürften, gehörten die beiden sicher in die engere Wahl. In Rückblenden lassen sie die merkwürdige Entführung noch einmal Revue passieren, meist im Plauderton, oft humorvoll mit pantomimischen Einlagen. Die Erinnerungen divergieren leicht, so wie sie das bei uns allen tun – Stück und Aufführung bleiben dadurch stets in einem kaum merklichen Schwebezustand. Amüsant gelingt die Parodie von Steward und Stewardess; etwas nachdenklicher stimmt schon die Rekapitulation der Bestimmungen für das Verhalten im Fall von Entführungen, die sich seit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 verändert haben: So richtig praktikabel klingen die nicht, so richtig erfolgversprechend erst recht nicht. Erzählt wird – ganz undramatisch - vom Steward, dessen Gesicht aussah wie Asche. Niemals thematisiert werden die leichten Verletzungen, die Mariella und Dave offenbar bei der Notlandung davongetragen haben: Mariella hat eine kleine Wunde an der Stirn und Löcher im Pullover, beide haben eine leicht verschmutzte Haut. Aber Zenner und Wunderlich behalten ihren sympathischen Hang zur Parodie, zur Neckerei, zum menschenfreundlichen, positiven Denken. Es ist alles halb so schlimm. Wenn man mal davon absieht, dass draußen gerade die Welt untergeht…

Auf der Homepage der Autorin heißt es: „If you’re looking for fun, dark, and subversive storytelling, you’ve come tot he right place.“ – Genauso kommen Stück und Aufführung daher: unterhaltsam, humorvoll – und subversiv, denn Regisseurin Verena Regensburger sorgt im Verein mit ihrer Bühnenbildnerin Marie Häuser und dem Sounddesigner Azhar Syed sowie ihren beiden Schauspielern dafür, dass der bedrohliche Hintergrund und die merkwürdige, surreale Situation, in der sich die Protagonisten des Stücks befinden, trotz des Plaudertons niemals in Vergessenheit geraten. Mariella und Dave verhalten sich, wie wir alle uns im Angesicht der Klimakatastrophe verhalten: Sie chillen auf dem verbleibenden Stück Land, solange sie dort sicher sind. „Wann ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt?“, fragt Mariella: „Ehrlich gesagt, ziemlich lange gar nicht.“ – Was für die Flugzeugentführung galt, gilt für unser Klima. Die Botin aus der Zukunft hat sie mit der Nase draufgestoßen. „Ich glaube schon, dass alles noch viel schlimmer werden kann“, räsoniert Dave. Treffend beschreibt er unser eskapistisches Verhalten im Angesicht der Bedrohung, unseren Hang, den Kopf in den Sand zu stecken: Wenn die künftigen Katastrophen uns nicht bemerken, so hofft er, wissen sie vielleicht nicht, dass es uns gibt…

Ich hasse es, dass es nur uns gibt“, sagt Eve Leigh in einem im Programmheft abgedruckten Gespräch. Auch sie wünscht eine Heldin oder einen Helden, die oder der etwas gegen den Klimawandel unternimmt. Aber sie weiß, dass es einer kollektiven Anstrengung bedarf. Auf der Bühne des Bonner Theaters liegen die ganz und gar unheldischen, ganz und gar sympathischen Figuren auf ihrer kleinen grünen Insel im Gras, umgeben vom nackten schwarzen Bühnenboden. Hat das Wasser des Meeresspiegels inzwischen Sibirien erreicht? Wer soll die Menschheit retten, wenn es die Dame aus der Zukunft nicht gibt? – Aus dem Off erhebt sich apokalyptisches Geschrei. Aber es gibt immer ein paar, die knapp davonkommen.