Woyzeck im Dortmund, Schauspielhaus

Woyzeck als animalisches Schauermärchen

Es schauert mich“, sagt Marie. Tatsächlich hat die Regisseurin Jessica Weisskirchen aus Georg Büchners Woyzeck ein Horror- und Schauermärchen gemacht – und das ist so mitreißend, so phantasievoll ausgestattet und so atmosphärisch dicht wie lange keine Inszenierung mehr am Schauspiel Dortmund. Alles an dieser Inszenierung strahlt Bedrohung aus: Bühne, Kostüme, der Sound, die Gesichter. Woyzeck kauert auf einem Rondell aus grauen Gitterstäben, die zunächst an ein Gefängnis denken lassen. Die Protagonisten in Weisskirchens Inszenierung sind gefangen in einer Welt, in der sie keine Zukunft haben und in der die Gegenwart ihnen keinen Halt und keine Perspektive bietet – keinem von ihnen, nicht Woyzeck und nicht Marie, aber auch nicht dem Doktor oder dem Hauptmann, und auch nicht dem gar nicht als eigene Figur, sondern eher als Projektion auftretenden Tambourmajor. Später wird sich das Rondell als Karussell auf einem bösen so freudlosen wie grellen Jahrmarkt erweisen. Die Büchner-Figuren kreiseln ziel- und perspektivlos, „unterste Stuf von menschliche Geschlecht“, so wie auch der Büchner-Text in Weisskirchens Fassung kreiselt: Immer wieder werden die gleichen Formulierungen wiederholt, die Formulierungen vom Menschen, der nichts ist als „Staub, Sand, Dreck“, ein „viehdummes Indiviehduum“. Und damit sind wir bei der dritten Assoziation, die durch die Gitterkonstruktion des Bühnenbildes geweckt wird: In einem Käfig werden die Protagonisten ausgestellt wie in einem Abnormitäten-Kabinett – Kreaturen, viehische Individuen, weniger wie Gott sie gemacht hat als vielmehr wie sie den düsteren Phantasien von Georg Büchner, Jessica Weisskirchen und dem Ausstatter Günter Hans Wolf Lemke entsprungen sind. Büchners Wort vom viehischen Individuum hat Weisskirchen wörtlich genommen.

Was willst du mehr sein als Staub, Sand, Dreck?“ Mantraartig wird das wiederholt im Laufe des 80minütigen Abends, von verschiedenen Figuren, auch mal chorisch: Nicht nur Woyzeck ist ein „viehdummes Individuum“, „ein Mensch, ein tierischer Mensch – und doch ein Vieh – une bête.“ Die Kreaturen, wie Gott sie gemacht hat, sind bei Weisskirchen Zwitterwesen aus Mensch und Tier. Sie alle haben ein menschliches Hirn, das jedoch völlig zerstört ist. Wenn der Doktor jubelt: „Woyzeck, du kommst ins Narrenhaus“, verkennt er, dass all die Individuen, die Jessica Weisskirchen in ihrer reduzierten, collageartig zusammengesetzten Textfassung aus Büchners Fragment übernommen hat, irre sind - zumindest leiden alle an irreparablen Traumata. Alle sind getrieben von Angst: „von der Angst zur Angst, von da zum Krieg und von da zur Courage“, drückt es der Hauptmann (Ekkehard Freye) aus, dem nur der „Brandewein“ hilft, um Angst und Unsicherheit zu betäuben. Linda Elsner, eine großartige Marie, kratzt pathologisch am Gitter-Geländer: Auch sie sucht in höchst prekärer Situation nach Halt („Mädel, was fängst du jetzt an / Hast ein klein Kund und kein Mann“), ist aber gleichzeitig stets kampfbereit. Während Woyzeck den Existenzkampf seines Lebens längst verloren hat, lässt Marie noch einen Rest an Lebensgier spüren. Beschwörend, mit großer Suggestionskraft wird sie Woyzeck kurz vor dem Mord das Märchen der (in Weisskirchens Inszenierung gestrichenen) Großmutter erzählen. „Was ist die Natur? Staub, Sand, Dreck“, wird sie resümieren – und dem Staub, Sand, Dreck ihrer Existenz nicht entfliehen können.

Nika Miskovic als Doktor, eine Teufelin in Weiß mit langen Krallen an den Handschuhen und schlängelnden Bewegungen, steht offenbar unter Dauerdruck, weil sie dem offensichtlichen Irrglauben unterworfen ist, im Erfolgsfalle mit ihren Experimenten an Woyzeck dem Morast aus Staub, Sand, Dreck entkommen zu können, in dem der Doktor nicht minder feststeckt als die übrigen Figuren. Raphael Westermeier wird, kaum dass er seinem Kuriositäten-Käfig entronnen ist, von Miskovic in einer Pop-Pea-Maschine umhergefahren – einem Popcorn-Wagen, der statt mit duftendem Puffmais mit Erbsen gefüllt ist (des Doktors Experiment besteht ja im Wesentlichen daraus, dass Woyzeck nichts als Erbsen essen darf). Wenn man so will, repräsentiert die Szene mit dem in der engen Pop-Pea-Maschine eingesperrten Woyzeck als einzige in Jessica Weisskirchens Inszenierung so etwas wie Humor – aber dieser Humor ist so tiefschwarz und schauerlich, dass er eher schmerzt als dass er lachen macht. - Freund Andres existiert wohl nur in Woyzecks Phantasie, aber er dient der geschundenen Soldaten-Kreatur als Halt, als Resonanzboden auch – ein zweifelhafter Halt. Als lebloser Rucksack sitzt Andres auf Woyzecks Rücken, ein ekliges, in sich zusammengerolltes urzeitliches Echsen-Tier mit einem merkwürdigen Rüssel. Woyzeck trägt schwer an diesem Rucksack: Dieses Tier, das Woyzeck später abwerfen wird, ohne dass ihm dies Erleichterung verschafft, soll Andres sein, sein Freund und die einzige Kreatur, der ihn nicht quält? Ihre animalischen Zwitter-Wesen kann Weisskirchen mit Büchners Text beglaubigen.

Der Aff als Soldat, Andres, bist du ein Maulwurf, Woyzeck, hat er mir Frösch gefangen? Hier ist zu sehen das astronomische Pferd, ein Wind wie eine Maus, hat gepisst wie ein Hund – ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, wie viele Tier-Metaphern es in Büchners Text gibt? In Lemkes großartigen Kostümen fährt auf dem gruseligen Dortmunder Jahrmarkt ein Chor der Tiere auf: Ziege, Katze, Ratte, Pferd. Eselsmasken – und teuflische Pferdefüße, auf denen Marie und der Hauptmann balancieren müssen. Pferd, Katze und Ratte verwandeln sich in einen Tambourmajor-Chor. Tierische Jäger schießen. Wiederholt lässt Weisskirchen singen: „Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal / saßen einst zwei Hasen…“ – Die Regisseurin hat einen gruseligen Totentanz inszeniert, einen grotesken Albtraum von Menschen, die durch ihre Lebensumstände, vielleicht auch von der Dominanz ihrer animalischen Instinkte ins Trauma und in den Irrsinn, ins, wie es bei Büchner heißt, „Hirnwütige“ getrieben wurden. Das Dortmunder Ensemble entwickelt dabei eine Intensität, wie wir sie an diesem Haus lange nicht gesehen haben.