Nichts als die Wahrheit
Im Kreise seiner Lieben will Helge Klingenfeld-Hansen seinen 60. Geburtstag feiern. Alle sind auf den Landsitz der Familie gekommen. Freunde und Familie. Dazu gehören natürlich auch seine Kinder Christian, der älteste, Helene und der jüngste Sohn Michael mit Frau Mette. Nur eine fehlt. Tochter Linda, Christians Zwillingsschwester. Sie hat sich vor wenigen Monaten das Leben genommen. Ihre Beerdigung war der letzte Anlass für ein Familientreffen.
Doch jetzt soll gefeiert werden, ein rauschendes Fest mit Musik und gutem Essen. Und wie immer gibt es da ein paar Spielregeln, so der Toastmaster Helmut, und er erteilt den Gästen das Wort. Christian hat gleich zwei Ansprachen vorbereitet und der Vater kann wählen, welche er hören will. Die im grünen Umschlag oder die im gelben. Er entscheidet sich für grün. „Eine interessante Entscheidung“, findet Christian, denn dieses Kuvert enthält „eine Art Wahrheitsrede“. Sie heißt: „Wenn Papa ins Bad wollte“ und berichtet vom jahrelangen sexuellen Missbrauch der Zwillinge durch den Vater und gipfelt in Christians Anklage, Helge habe seine Tochter in den Selbstmord getrieben: „Auf den Mann, der meine Schwester umgebracht hat. Skol auf einen Mörder!“ Helge leugnet und verweist darauf, dass Christian schon als Kind in einer Nervenheilanstalt gewesen sei. Mutter Else ist entsetzt und verlangt eine Entschuldigung. Die Gäste protestieren empört, niemand will ihm Glauben schenken. Die Stimmung ist ruiniert, alte Wunden brechen auf. Helene entdeckt einen Abschiedsbrief ihrer Schwester, der bestätigt, dass sie Selbstmord beging, weil sie mit der Traumatisierung durch den Inzest nicht fertig wurde.
Das Fest, als Film von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov, erregte 1998 Aufsehen als erste Verfilmung auf der Grundlage des dänischen DOGMA 95-Manifestes, das die beiden Regisseure mitunterzeichnet hatten. Als oberste Maxime galt die absolute Authentizität, die Rückkehr zum Naturalismus, z.B. Dreh nur an Originalschauplätzen.
Das Fest wurde erfolgreich für die Bühne adaptiert. In Essen inszenierte Karsten Dahlem das Stück zur Spielzeiteröffnung auf der großen Bühne des Grillo-Theaters.
Ganz u Beginn spricht die tote Schwester Linda (Trixi Strobel) aus dem dunklen Bühnenraum zum Publikum: „Hallo, könnt ihr mich sehen?“ Sie nimmt auch am weiteren Geschehen teil, indem sie immer wieder auftaucht und Christian immer wieder unterstützt. Dann treten die Familienmitglieder nach und nach vor dem Eisernen Vorhang auf und stellen sich vor. Dann erst hebt sich der Vorhang.
Wir sehen die Räume des Anwesens, die Gäste richten sich ein. Kurz darauf werden Möbel und Raumtrenner hochgezogen und schweben für den Rest des Abends über dem Bühnengeschehen. Nichts ist mehr, wie es war.
Vater Helge (Jens Winterstein) gibt sich zunächst gerührt ob all der Aufmerksamkeiten. Dann trägt Christian (überaus beeindruckend: Philip Noack) seine Rede vor, klar, zutiefst emotional, aber standhaft. Die anderen wollen es zunächst nicht wahrhaben, was für ein dunkles Geheimnis hier aufgedeckt wird. Helge beruft sich auf die Tatsache, wie schnell man doch vergisst, und fordert tatsächlich dreist Respekt ein. Helmut macht vergeblich dünne Witze, um die Situation zu retten. Die Mutter (Ines Krug) geht sogar so weit, von Christian eine Entschuldigung zu verlangen. Er habe doch schon als Kind eine reiche Fantasie gehabt, so ihre Begründung. Ihr Versuch, auszugleichen, wird von Christian barsch zurückgewiesen. War sie doch 1998 Zeuge der Vergewaltigung ihrer Kinder durch ihren Mann („Entschuldige Mama, dass du so verlogen bist.“).Tochter Helene (Sabine Osthoff) empfängt zu später Stunde ihre farbige Freundin Luzolo (Azize Flittner). Im Film war es der farbige Geliebte Gbatokai. Jetzt kommen in dieser Familie der besseren Gesellschaft neben rassistischen Vorurteilen auch homophobe Ängste hinzu.
Die Stimmungen an diesem Abend werden immer wieder verstärkt durch die musikalischen Einlagen des Geysir Quartetts.
Ein überaus berührender und intensiver Abend mit einem sehr guten Ensemble (zu nennen wären noch: Alexey Ekimov, Silvia Weiskopf, Olga Prokot, Thomas Büchel, Sven Seeburg) und einem immer noch aktuellen Thema. Inzest, so oft er vorkommt, ist allzu oft ein Tabuthema. Ein Verbrechen, das äußerlich keine sichtbaren Spuren hinterlässt, was es den Opfern schwer macht, gehört zu werden.
Zu Recht Standing Ovations!