Übrigens …

Once I Lived With A Stranger im Köln, Schauspiel

Wo böse Geister Tütensuppen essen

Bei Tante Hennilies war es ein Marder. Den hat zwar bis zum Ableben der Tante nie jemand zur Strecke gebracht, aber klar war: Es war ein Tier, dessen Schritte die polnischen Pflegekräfte, die in der Einliegerwohnung unterm Dach der kranken Rezensenten-Tante hausten, regelmäßig um den Schlaf brachte. Die Hausverwaltung der namenlosen Protagonistin von Marie Schleefs jüngster Inszenierung am Schauspiel Köln tippt ebenfalls auf ein Tier: Eichhörnchen oder Waschbär, lautet die Diagnose. Bloß: Seit wann trinken Eichhörnchen oder Waschbären Limonade aus der Flasche? Und wieso fehlen Tütensuppen und Nudeln?

Die Unbekannte aus der Szene, nennen wir sie Kristin, ist gerade umgezogen. Vielleicht ist das kleine Haus mit der breiten zweistufigen Zugangstreppe, in dem sie dem Text, aber nicht den Bildern zufolge nur die oberste Etage bewohnt, die erste eigene Wohnung der jungen Frau. In der kann man ja schon mal vor lauter Einsamkeit Halluzinationen bekommen. Vielleicht war Kristin ja auch vorher schon bekloppt. Und vielleicht, vielleicht hat eine ganz normale Kristin einen ganz normalen Tapetenwechsel vollzogen. Ins falsche Haus, in die falsche Stadt halt: Der Ort, in den sie gezogen ist, heißt Enumclaw. In der indigenen Sprache der Bitterroot Salish, der Ureinwohner dieser Gegend, bedeutet der Name der Stadt „Platz der bösen Geister“. Könnte es sein, dass böse Geister Tütensuppen essen?

Enumclaw gibt es übrigens wirklich. Der reale Ort mit diesem Namen liegt im amerikanischen Bundesstaat Washington. Seattle ist nicht weit, und die kanadische Grenze auch nicht. Wikimaps und die umfangreiche Reise-Erfahrung des Rezensenten seien Zeugen: Saguaros gedeihen dort eher selten (Waschbären schon). Eine riesige Saguaro-Kaktee, wie herbeigebeamt aus dem gleichnamigen Nationalpark in Arizona, steht neben Kristins Haus. In der Mitte des Wohnzimmers steht ein Echinocactus grusonii, im Volksmund Schwiegermuttersessel genannt - ein einladend hockerförmiges Gewächs aus der Gattung der Goldkugelkakteen. Und was schleppt Kristin als erste Dekoration für ihre neue Wohnung an? ‘Nen Kaktus natürlich, einen tentakelartigen, mit vielen verschlungenen Armen.

Einer davon bricht ab. Merkwürdig: Des tuets nümm weh, wenn Kristin ihr Gesicht auf den Schwiegermuttersessel drückt oder wenn sie die tentakelhaften Kakteenarme umschlingt. Viel merkwürdiger aber: Wenn drinnen einer der Tentakel abbricht, fällt draußen mit Gepolter ein Fragment der Carnegiea gigantea, also der gigantischen Saguaro-Pflanze herunter. Sie haben richtig gelesen: mit Gepolter, denn das Teil klingt ziemlich hohl und nicht nach einem Werk der Natur. Kristin packt’s an – und verzerrt das Gesicht vor Schmerz. Der Platz der bösen Geister gebiert Horror-Elemente aus dem Splatter-Kino.

Kristin – es handelt sich natürlich um die Schauspielerin Kristin Steffen – verzieht das Gesicht, aber sie schreit nicht. Kristin spricht auch nicht. Keiner spricht. Marie Schleef interessiert sich nämlich, wie es im Programmheft in für die so einfach wie effektvoll strukturierte Aufführung viel zu anspruchsvollem Sprachduktus formuliert ist, für die „Experimentierform der Übertitel als textliches Kommunikationsmedium“. Der Monolog bleibt stumm – geisterhaft. Geisterhaft bewegen sich auch Kristin Steffen und die bald die Szenerie durchquerenden Statistinnen und Statisten auf der Bühne: in Zeitlupe, ganz leise tapsend. Am Platz der bösen Geister wird nicht gesprochen. Aber Musik gemacht: ein dumpfer Soundtrack ist es zunächst, der irgendwann anfängt zu nerven, ein gleichmäßig immer auf der gleichen Frequenz klopfender Bass. Später dreht der Sound auf: Zum Wummern der Bässe gesellen sich Kastagnetten- und Glockenklänge.

Wo böse Geister Tütensuppen essen, ist auch Platz für Humor. Neben Horror-Elementen aus dem Splatter-Kino gibt es Animationen für den sonntagnachmittäglichen Familienfilm. Eine große Kugel - Sonne oder Mond, Sie haben die Wahl – hängt neben dem Kaktus, und es ist wie bei Galileo Galilei: Eigentlich ist der Mond eine Scheibe. Darauf werden allerliebste Figuren projiziert: ein Marienkäfer, den Kristin beim Einzug findet und fortbläst, ein Rotwein-Glas, ein Wasserhahn, die Trommel einer Waschmaschine. Kristin versucht, Alltag zu leben. Dass plötzlich hinter den grauen Jalousien des Hauses strähnige Vorhänge in der Farbe von Kristins rotbraunem Haar auftauchen, mag man noch dem langsamen Versuch, die neue Behausung wohnlich zu gestalten, zuschreiben. Doch warum schneidet sich die junge Frau einzelne Strähnen ihrer Haare ab? Kristin tickt langsam durch. Die Zeichen mehren sich, dass sich jemand in ihrer Wohnung eingenistet hat. Längst hat sie die Luke entdeckt, die ins Dachgeschoss führt. Plötzlich kippt eine solche Luke auch im Badezimmer zu. Zu, nicht auf: Wir haben es wohl kaum mit einem Voyeur oder einem Stalker zu tun, sondern mit einem Mitbewohner, der unauffällig bleiben und nichts Böses tun will. Und doch: Jeder Passant, jede Passantin wird verdächtig, wird von Kristin misstrauisch beäugt – und fühlt sich beäugt. Irritierend, geradezu furchteinflößend, für den Zuschauer aber nur skurril sind die stummen Begegnungen: mit dem Fahrradfahrer, dem Menschen mit dem Dauerlutscher, der den abgelutschten Stiel des Lutschers in den Topf mit dem Saguaro steckt, der Dame mit den Putz-Utensilien, der alten Frau mit den Äpfeln auf dem Rollator und anderen mehr. Es sind Alltagsbegegnungen, für Kristin sind es jedoch alles Spukgestalten, verdächtige potentielle Eindringlinge.
Mehr und mehr äußern sich Zeichen einer pathologischen Depression, einer Angststörung. Kristin geht nicht zur Arbeit, bleibt einen ganzen Tag im Bett. Kristin presst ihre Hände in die Stacheln der Kakteen. Einzeln zieht Kristin die Stacheln aus dem Saguaro – tagelang, wochenlang. Kristin bekommt Panikattacken. Sie ruft ihre Schwägerin an – und die die Polizei. Wie ein Sonderkommando der GSG9 entert die den Zuschauerraum im Depot 2 des Kölner Schauspiels. Sie richtet Maschinengewehre auf die Zuschauer, auf das Haus, auf Kristin. Spannung, Beklemmung macht sich breit – aber immer gefiltert durch die abstrakte Art zu spielen. Gefunden wird niemand. Nur ein Schlafsack, ein Buch – und Essen. Essen! Da war also jemand, kürzlich noch. Jemand, der wiederkommen wird?

Die Luke geht zu, der Vorhang auch. Der Albtraum ist vorbei. Was von dem, was wir gesehen haben, war real, und was war nur eine Neurose? Auch in den USA rückt wohl kaum die GSG9 an, weil ein junges Mädchen Schritte hört. Oder etwa doch? Die Aufführung wirkt nach, man stellt Fragen, obwohl sie doch eigentlich eine eher irrelevante, abstruse Story erzählte. Sie währt siebzig kurze Minuten, hat aber dennoch Längen. Es ist eine Petitesse, die Marie Schleef da inszeniert hat. Aber Schleef mixt geschickt Humor- und Grusel-Elemente und spielt verschmitzt mit dem Wechsel zwischen Horrorszenen und Comic-Animationen. Man kann der Aufführung Banalität vorwerfen, aber sie fasziniert mit einer besonderen Ästhetik, einer ungewöhnlichen Atmosphäre und mit ihrem kreativen, experimentellen, spookigen Zusammenspiel aus Bildern und Sound. Marie Schleef hat bei Susanne Kennedy gelernt – wenn man das weiß, glaubt man Elemente von deren Theatermitteln zu erkennen. Und die Kennedy wird schließlich schwer gehypt.

Wie auch immer: Der Rezensent fühlte sich ziemlich gut unterhalten, und für seine Begleiterin fühlte es sich an, als hätte man sie auf den Schwiegermutter-Sessel gesetzt. Man wird nicht recht klug draus: die Zuschauenden nicht, und die schöne Kristin, bei der es entweder im Haus oder im Kopf oder in beiden irgendwie spukt, auch nicht. Wie heißt es bei Element of Crime: „Früher war ich klug / Heute bist du schön / Hinter uns verbrennen / Narzissen und Kakteen.“