Über Menschen

Übermenschen im Unterhemd und andere Vorurteile

Sie könnten so ein schönes Paar sein: Dora, die linksliberale, politisch korrekte Werbetexterin für nachhaltige Produkte, und Robert, der Klima-Aktivist und überzeugte Öko. Zwei Grüne – also richtig grün, nicht wie der durch den russischen Angriff auf die Demokratie und die folgenden Energie-Engpässe zum Pragmatismus gezwungene andere Robert und seine Minister-Kollegin Annalena. Bei Doras Robert aber haben sich die hehren Ideale, die der Weltenrettung dienen sollten, längst in eine radikale Kampf-Ideologie verwandelt. Seine Kompromisslosigkeit wird zur Diktatur; das gemeinsame Leben mit ihm empfindet Dora mehr und mehr als ein Korsett, das ihr die Luft zum Atmen nimmt. Als die Pandemie ausbricht und Robert zum Corona-Apokalyptiker mutiert, flieht die typische Großstädterin aufs Land. Sie nistet sich in einer alten, verfallenen Gutsverwalter-Villa mit einem verwilderten Garten in einem Ort mit dem onomatopoetisch passenden Namen Bracken ein. Das Dorf liegt in der ostdeutschen Provinz; der Zuzug von Dora erhöht seine Einwohnerzahl auf 285. Es gibt keine Arbeit, keine Schule, keinen Metzger und keinen Dorfladen, aber donnerstags fährt ein Bus. Der wird gesteuert von einem rotzigen, AfD wählenden Busfahrer, der bei Dora zunächst großes Unbehagen auslöst, ihr aber seine Hilfe anbietet. Übern Gartenzaun grüßt Nachbar Gote als „der Dorf-Nazi“, der bei den ausländerfeindlichen Krawallen in Rostock-Lichtenhagen mitgemischt hat und ab und zu „Linke klatschen“ geht. Alles in allem also eine entzückende Nachbarschaft. Doch Dora erfährt bald eine scheue Art von Nachbarschaftshilfe, bei der sich vor allem Gote, der offenbar ebenfalls AfD-nahe Florist Tom und sein Lebensgefährte Steffen und der Busfahrer hervortun. Gotes in prekären Verhältnissen lebende Tochter fasst Vertrauen, und irgendwann entspinnt sich zwischen Gote und Dora eine labile, zwischen Ablehnung und Zuneigung schwankende Beziehung. Dora erkennt, warum radikale Gesinnungen gerade in den unter Braindrain und Landflucht leidenden ostdeutschen Regionen so verbreitet sind. Und sie erfasst die Sehnsucht nach dem großen Wir über politische Grenzen hinweg.

Du hast es gern Schwarz-Weiß, oder?“ fragen Tom und Steffen die sich tolerant glaubende Dora: „Der Osten ist AfD, und der Westen Coca-Cola.“ Ausgerechnet in Bracken erfährt Dora, dass Menschen selten so eindimensional sind wie Vorurteile. In ihrem jüngsten Erfolgsroman berichtet Juli Zeh über Menschen, in deren Weltbild es noch Untermenschen gibt und die wir wegen ihres rassistisch anmutenden Weltbilds vielleicht insgeheim selbst als Untermenschen betrachten. Unter Menschen verhalten diese sich jedoch keineswegs immer asozial – sie haben zu kämpfen und zeigen eine scheue Solidarität denjenigen gegenüber, die sich anderen Widrigkeiten des Lebens ausgesetzt sehen. Doras städtische, linksliberale Kollegenschaft dagegen lässt genau diese Solidarität vermissen, als der jungen Frau bei nachlassender Auftragslage von ihrer Agentur gekündigt wird. „Über Menschen“ steckt voller Klischees, die die die Autorin jedoch sofort wieder – oft nicht minder klischeehaft – widerlegt. Zeh fordert einerseits, alle Vorurteile über Bord zu werfen. Doch sie lässt keinen Zweifel daran, dass der Mensch auch dann in Teufels Küche kommt, denn Vorurteile sind auch Schutzschilder. Zeh hat kein Patentrezept für die Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung. Sie zeigt ihre Ratlosigkeit. Sie stellt die Frage, inwieweit man mit Radikalen reden und unter gewissen Umständen sogar mit Rechten kooperieren darf. Und inwieweit es Grenzen der Toleranz gibt.

Christian Stückl hat den Roman im Januar 2022, weniger als ein Jahr nach seinem Erscheinen, für das Münchner Volkstheater dramatisiert, und Ulrich Greb hat ihn zum Spielzeitauftakt für das Schlosstheater Moers eingerichtet – nicht als Nachspiel, sondern in eigenständiger, völlig anderer Textfassung und Form. Beide Inszenierungen haben kaum etwas miteinander gemeinsam. Doch beide Inszenierungen sind ausgesprochen gelungen. So etwas ist wahres Theaterglück.

Karikaturen, Charaktere und Dialoge in München: Empathie für die Dorfgemeinschaft

Christian Stückl hat den Romantext für die Uraufführung am Münchner Volkstheater dialogisiert. Das Personal wurde ein wenig reduziert, aber den Schauspielerinnen und Schauspielern jeweils eine feste Rolle zugewiesen. Wie eine Insel wirkt das Dorf in den wunderbaren neuen Räumlichkeiten des Volkstheaters: Die wie aufgebockt dastehende Spielfläche kann von den Schauspielerinnen und Schauspielern nur über Leitern oder über eine im Hintergrund kaum wahrnehmbare Treppe erklommen werden. In meist warmen Tönen beleuchtet (oft in einem warmen Braunton, der Nazi-Gote vielleicht besonders gefallen würde) umgibt ein verschwommenes Panorama der brandenburgischen Landschaft den Bühnenraum. Windräder für die erneuerbare grüne Energie zeichnen sich ab. Das Fahrrad ist ein beliebtes Verkehrsmittel – der im Dorf in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft mit dem Floristen Tom lebende Steffen stellt es der zugewanderten Brackener Neubürgerin so großzügig wie uncharmant zur Verfügung, auf dass sie möglichst schnell damit wieder gen Berlin verschwinde. Die führt ganz naturalistisch ihre Hündin Jochen auf der Bühne aus – Jochen den Rochen, nicht Fisch, sondern Hund, und weiblich. Selbst bei den Tieren ist nichts so, wie es scheint oder wie der erste Blick nahelegt.

Steffen und Tom werden als Karikaturen gezeichnet. Prompt baut man als Zuschauer Vorurteile auf, die bald revidiert werden müssen. Das Schwulen-Paar in seinen identischen potthässlichen Strickpullovern wirft mit rassistischen Sprüchen und empörenden ausländerfeindlichen Witzen um sich. Im Auftreten und Verhalten eher grenzdebil, überrascht ab und an seine elaborierte Ausdrucksweise. Er habe Flüchtlinge und Asylbewerber zu Dumpinglöhnen in seinem Gärtnereibetrieb angestellt, grient Tom selbstzufrieden und freut sich über die gelungene Provokation der linken Neubürgerin. In der Realität gibt er portugiesischen Erasmus-Studenten Ferien-Jobs und behandelt die Jungs offenbar ziemlich anständig - „Bracken ist eine Hochburg der Willkommenskultur“, wird es in der Moerser Inszenierung voller Ironie heißen. Steffen wiederum arbeitet als Kabarettist und spottet ebenso über Neonazis als „Übermenschen im Unterhemd“ wie über Berliner Parlamentarier mit „Fahrradklammern an den Hosenbeinen“, die ständig über „Toiletten für das dritte Geschlecht“ debattieren. Das bauernschlaue Paar, das Steffen Link und Julian Gutmann mit Witz und abgründigem Humor verkörpern, ist eine Show. Mit Hilfe von Tom und Steffens absurden Geschichten zeigt Stückl überzeugend auf, dass die Welt viel bunter ist als das Schwarz-Weiß-Bild von uns vorurteilsbehafteten Allerweltsmenschen.

In kabarettistischer Hinsicht mögen Steffen Link und Julian Gutmann in München den Vogel abschießen. Schauspielerisch ist jedoch Jakob Immervoll als versoffener, prolliger, fremdenfeindlicher und hilfsbereiter Dorf-Nazi der Star des Abends – der Widerling, der Linke und Ausländer vermöbelt und am Gartenzaun das Herz auf dem rechten Fleck hat. Das Horst-Wessel-Lied klingt zu Dora hinüber. Der gefriert das Blut in den Adern, aber so wie Gote zu harmonischer Musikbegleitung (Tom Wörndl) die Fahne hoch und die Reihen fest geschlossen hält, hat das alte Kampflied der SA glatt das Potential zum Sommerhit. Gote erzählt von den fremdenfeindlichen Attacken in Rostock-Lichtenhagen, von dem Genuss und der Befriedigung, die ihm der Kampf gegen die Polizei und der bei den Krawallen freigesetzte Hass bereitet haben. Der Mann ist ein Ekelpaket – und doch vermag er zu rühren. Mit einem lebensbedrohlichen Tumor landet er im Krankenhaus. Er wütet gegen die indisch-stämmige Ärztin, die ihm das Leben rettet. Doch als er lebend und kraftvoll aus der Klinik zurückkehrt, registriert man als Zuschauer erschrocken und verwirrt die eigene Erleichterung,

Christian Stückl ist es im Verein mit seiner Autorin gelungen, festgefügte Vorurteile und Glaubenssätze zu erschüttern und den Menschen im Unmenschen zu sehen. Wie weit das zu Sympathie führt, dürfte individuell unterschiedlich sein. Stückl jedenfalls zeigt Empathie für all seine Figuren. Vielleicht teilt er die utopisch erscheinende Hoffnung auf das große Wir. Eher Hoffnung als Zuversicht klingt in den Worten von Maral Keshavarz als Dora mit, wenn sie den genesenen Nazi fragt: „Glaubst du, dass man sich ändern kann?“ - „Man kann sterben“, antwortet Gote. - Sein Tod lässt nicht lange auf sich warten. Ob es ein Suizid ist, lässt Stückl offen, doch seine Inszenierung legt es nahe. Das weckt zumindest Mitleid.

Kernsätze, Zuspitzungen und offene Fragen: ein Diskussionsangebot in Moers

Ulrich Greb hat sich dem Roman am Schlosstheater Moers völlig anders genähert. Weder hat er den Text dialogisiert noch hat er eine feste Rollenzuweisung vorgenommen. Er entgeht damit der Gefahr der Solidarisierung mit einzelnen Figuren. Von Mitleid mit Gote kann keine Rede sein – aber auch die Trennung von Dora und Robert, dem grünen Gutmenschen-Paar vom Beginn der Geschichte, erscheint rationaler begründet und wird mitleidloser erzählt als in München. Während der alternativ angehauchte Fahrradfahrer Max Poerting in München noch gewisse Sympathien für seine Figur zu wecken vermag, wird in Moers vor allem Roberts Fundamentalismus deutlich. Grebs Blick auf die Figuren ist analytischer als der von Stückl; von Empathie ist keine Spur - allenfalls für die Figur von Dora, die jedoch nicht an eine einzelne Schauspielerin oder einen einzelnen Schauspieler gebunden ist.

Darf man mit Nazis reden? Darf man gar mit ihnen kooperieren? Antworten auf diese vom Roman aufgeworfenen Fragen vermeidet Greb wie der Teufel das Weihwasser. Er macht keine Identifikationsangebote, sondern er will die Diskussion – auch in vom Theater angebotenen Künstlergesprächen, Lesungen und Gesprächsrunden. Greb kürzt den Schluss der Erzählung radikal ein und lässt wesentliche Teile weg. Das Ende ist abrupt; ein einziger Satz genügt, um Gotes Tod anzudeuten. Von Selbstmord ist nicht die Rede. So wirkt die Story beunruhigender als in München; allerdings stellt sie für Zuschauer, die weder den Roman noch seinen Inhalt kennen, eine Herausforderung dar. Ihr interpretatorischer Ansatz ist intellektueller als in München, ihre Ästhetik dagegen ist spröder. Optisch wirkt sie wie ein noch unfertiges „Work in Progress“ bei der Entstehung eines Werbeclips in Doras Stadtbüro: Ein rauer Werkstatt- oder Ateliertisch dominiert die Bühne, fast comicartige Videoclips mit Bussen, Häusern und Figuren illustrieren die mit Hilfe von meist nicht dialogischen Original-Zitaten des Buches erzählte Handlung. Der Arbeitstisch stellt das wichtigste Requisit der Aufführung dar. An ihm finden Diskussionen und Auseinandersetzungen statt; er repräsentiert das Büro der grünen Werbeagentur, die Dora in gut kapitalistischer Manier den Stuhl vor die Tür setzt, als die Auftragslage nachlässt (was die übrigen mit peinlichem Schweigen quittieren), aber auf ihm kann auch das Modell des Dorfes Bracken aufgebaut werden. So verbindet Greb die beiden Lebenswelten von Dora miteinander und schlägt Brücken zwischen dem Komplex der großstädtischen kapitalistischen Werbewelt und dem Rechtsruck, der möglicherweise nicht nur auf dem Dorf, sondern in der Gesamtbevölkerung wahrgenommen wird. Die Frage der Kommunikation und Kooperation mit dem rechten Teil der Gesellschaft, die in der Münchner Inszenierung erst in Bracken virulent wird, stellt Greb bereits zu Beginn mit einem Blick auf die Werbebranche in den Fokus: Inwieweit kann nachhaltige Werbung auch die Rechten, die Neonazis erreichen? Ist ein Werbekonzept für die Zielgruppe der rechten Bevölkerungs-Minderheit ein Tabubruch?

Auch Greb hat vielfältige Beispiele für die Widersprüchlichkeiten im Leben gefunden, die sämtliche Vorurteile obsolet machen und eine differenzierte Betrachtungsweise erfordern. Wer grün handelt, kann braun wählen; wer braun denkt, kann einen grünen Daumen haben und partiell Gutes tun. Die Fürsorge der Dorfbewohner hat gleichzeitig etwas unangenehm Patriarchalisches: „Du bist ‘ne Frau…“. Die Kostümbildnerin Birgit Angele hat den fünf Schauspieler(inne)n, die sich über Juli Zehs personenreichen Roman hermachen, identische grüne Shirts übergezogen. „Kein Kostüm“, steht in dicken Lettern darauf. Was nicht minder irritiert als der Schriftzug, den Dora für eine neue nachhaltige Produktlinie entworfen hat: „Gutmensch“ - in Frakturschrift. Das Horst-Wessel-Lied wird auch in Moers gesungen – zunächst ebenso harmonisch wie in München, doch als Dora dagegen aufbegehrt, bekommt es eine aggressive Note. Da hat Greb seine Zurückhaltung gegenüber jeder Wertung einmal aufgegeben.

Es gibt keine absoluten Gewissheiten“, lautet einer der Kernsätze in Ulrich Grebs Inszenierung: „Bei genauer Betrachtung verschwinden alle Gültigkeiten.“ Und werden alle Ideologien brüchig. Statt über Dialoge erschließt sich die Zielrichtung des Romans in Moers vor allem über prägnante Merksätze. So wird der politische Gehalt der Vorlage betont: „Wie viele Varianten von Wirklichkeit können nebeneinander existieren, ohne dass das System zusammenbricht“, fragt Dora mit Juli Zeh. Angesichts der mangelnden Infrastruktur in Bracken reflektiert sie den Widerspruch, dass es in einem reichen Land wie Deutschland „Regionen gibt, in denen es nichts gibt. … Aber Windräder … und Dieselverbote.“ Mag sein, dass dies allzu wohlfeile Erklärungsmodelle für die Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung sind. Aber sind sie so falsch? Juli Zeh wäre nicht Juli Zeh, wenn sie nicht den einen oder anderen Sachbuchtext in ihre Belletristik einflechten würde, den Greb in seiner Inszenierung zitiert: „Die Tragik unserer Epoche … besteht darin, dass die Menschen ihre persönliche Unzufriedenheit mit einem politischen Problem verwechseln. … Die Unzufriedenheit der Leute ist ein politisches Problem, und zwar von gigantischem Ausmaß. Die Unzufriedenheit ist in der Lage, ganze Gesellschaften zu sprengen. Man braucht nur ein wenig Zündstoff, Flüchtlinge oder Corona, und schon droht das ganze Gebilde auseinanderzufliegen…“

Es lohnt sich, die beiden so unterschiedlichen Ansätze, sich mit Unter Menschen zu befassen, kennenzulernen. Auf nach Bracken – in die Klein- und in die Großstadt!